Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sie

Sie

Titel: Sie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Rider Haggard
Vom Netzwerk:
darüber stehen wird? Alle menschlichen Gesetze sind uns nicht mehr als der Nordwind einem Berg. Beugt der Wind den Berg oder der Berg den Wind?
    Und nun verlaßt mich bitte, auch du, mein Kallikrates, denn ich möchte mich zu unserer Reise rüsten, und ihr und euer Diener solltet es mir gleichtun. Nehmt aber nicht allzuviel mit, denn ich glaube nicht, daß wir länger als drei Tage fort sein werden. Dann kehren wir hierher zurück, und ich entwerfe einen Plan, nach dem wir für immer diesen Grüften von Kôr Lebewohl sagen werden. Ja, gewiß darfst du meine Hand küssen, Geliebter!«
    So zogen wir uns denn zurück – ich tief in Gedanken über das schreckliche Problem versunken, das unser harrte. Die furchtbare ›Sie‹ war offenbar entschlossen, nach England zu reisen, und die Vorstellung, welche Folgen ihre dortige Ankunft haben würde, ließ mich erschaudern. Ich kannte ihre Macht, und es gab für mich keinen Zweifel, daß sie diese voll ausüben würde. Vielleicht würde man sie eine Weile zügeln müssen, doch ihr Stolz und Ehrgeiz würden bestimmt alle Fesseln sprengen und sich für die langen Jahrhunderte der Einsamkeit rächen. Sollte die Macht ihrer Schönheit für ihre Zwecke nicht ausreichen, so würde sie, um ihr Ziel zu erreichen, alle, die sich ihr in den Weg stellten, vernichten, und da sie nicht sterben und, soviel ich wußte, auch nicht getötet werden konnte, war sie nicht daran zu hindern. * Am Ende würde sie zweifellos die absolute Herrschaft über England und seine Besitzungen sowie wahrscheinlich über die ganze Erde an sich reißen und unser Land zum größten und reichsten Imperium der Welt machen, doch würde dies schreckliche Opfer an Menschenleben kosten.
    Das Ganze erschien mir wie ein Traum, wie die monströse Ausgeburt eines spekulativen Gehirns, und war doch eine Tatsache – eine unfaßbare Tatsache, welche die Welt zur Kenntnis zu nehmen bald gezwungen sein würde. Was war der Sinn alles dessen? Nach vielem Nachdenken kam ich zu dem Schluß, daß dieses seltsame Wesen, das so viele Jahrhunderte lang, von seiner Leidenschaft gewissermaßen gefesselt, verhältnismäßig harmlos gewesen war, nun von der Vorsehung dazu ausersehen war, die Ordnung der Welt umzustoßen und möglicherweise durch Errichtung einer Macht, gegen die es ebensowenig wie gegen die Fügungen des Schicksals eine Auflehnung gab, die Verhältnisse zu verbessern.

23
     
    Der Tempel der Wahrheit
     
     
    Unsere Vorbereitungen nahmen nicht viel Zeit in Anspruch. Wir packten für jeden einen zweiten Anzug und ein Paar Reservestiefel in meinen Koffer und nahmen unsere Revolver und Expreßgewehre mit – eine Vorsichtsmaßnahme, der wir, wie sich später erweisen sollte, mehrmals unser Leben verdankten. Alle unsere anderen Sachen, darunter die schweren Gewehre, ließen wir zurück.
    Einige Minuten vor der vereinbarten Zeit stellten wir uns in Ayeshas Boudoir ein und trafen sie, in ihren schwarzen Mantel gehüllt, gleichfalls reisefertig an.
    »Seid ihr bereit für das große Wagnis?« fragte sie.
    »Ja«, erwiderte ich, »obwohl ich, ehrlich gesagt, nicht recht daran glaube, Ayesha.«
    »Ach, mein Holly«, sagte sie, »du bist wahrhaftig nur allzu geneigt, das Unbekannte als unmöglich zu betrachten. Doch du wirst sehen – wenn mein Spiegel dort nicht lügt«, und sie deutete auf das Becken mit dem kristallklaren Wasser, »so ist der Weg noch genauso wie damals. Und nun laßt uns aufbrechen zu jenem neuen Leben. Wer weiß, wohin es uns führen wird?«
    »Ja«, wiederholte ich, »wer weiß?«, und wir durchquerten die große Haupthöhle und traten hinaus ins Freie. Vor dem Eingang der Höhle erwarteten uns eine Sänfte und sechs stumme Träger, und zu meiner Erleichterung erblickte ich bei ihnen unseren alten Freund Billali, zu dem ich eine gewisse Neigung gefaßt hatte. Aus Gründen, die näher zu erläutern ich nicht für nötig halte, wünschte Ayesha, daß wir alle – ausgenommen sie selbst – zu Fuß gingen, und dies war uns nach unserem langen Aufenthalt in der Höhle ganz recht, denn mochten diese als Aufbewahrungsort für Sarkophage auch sehr geeignet sein, für atmende Sterbliche wie uns stellten sie doch überaus bedrückende Behausungen dar. Zufällig oder infolge Ayeshas Anordnungen befanden sich auf dem Platz vor der Höhle, wo wir Zeugen des schrecklichen Tanzes gewesen waren, keine Zuschauer. Nicht eine Seele war zu sehen, woraus ich schloß, daß niemand von unserer Abreise wußte, außer vielleicht

Weitere Kostenlose Bücher