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Titel: Sie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Rider Haggard
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Furcht nicht bezwingen. Anders jedoch Ustane.
    »Was will ›Sie‹?« flüsterte sie, zwischen ihrer Angst vor der schrecklichen Königin und ihrem Verlangen, bei Leo zu bleiben, hin und her gerissen. »Hat ein Weib nicht das Recht, bei seinem Gatten zu sein, wenn er stirbt? Nein, ich gehe nicht, mein Herr, der Pavian.«
    »Warum verläßt uns diese Frau nicht, mein Holly?« rief Ayesha vom anderen Ende der Höhle, wo sie flüchtig einige Skulpturen an der Wand betrachtete.
    »Sie will Leo nicht verlassen«, antwortete ich, da mir nichts anderes einfiel. Ayesha fuhr herum, deutete mit der Hand auf das Mädchen und sagte ein einziges Wort, welches jedoch genügte, denn der Ton, in dem sie es hervorstieß, sprach Bände.
    »Geh!«
    Da kroch Ustane auf Händen und Füßen an ihr vorbei zur Kammer hinaus.
    »Siehst du, mein Holly«, sagte Ayesha leise lachend, »es war nötig, daß ich diesen Menschen eine Lektion in Gehorsam erteilte. Dieses Mädchen hätte sich mir beinahe widersetzt, aber sie hat wohl heute morgen nicht gesehen, wie ich die Ungehorsamen bestrafe. Nun, sie ist fort; jetzt will ich nach dem Kranken sehen«, und sie trat an das Lager, auf dem Leo ruhte, das Gesicht im Schatten und der Wand zugedreht.
    »Welch stattlicher Jüngling«, sagte sie, als sie sich über ihn beugte, um sein Gesicht zu betrachten.
    In der nächsten Sekunde taumelte ihre schlanke, biegsame Gestalt durch die Kammer zurück, als hätte ein Schuß oder ein Dolchstoß sie getroffen, und dann entrang sich ihren Lippen der entsetzlichste, unheimlichste Schrei, den ich in meinem ganzen Leben hörte.
    »Was ist dir, Ayesha?« rief ich. »Ist er tot?«
    Sie wandte sich um und sprang auf mich zu wie eine Tigerin.
    »Du Hund!« sagte sie in ihrem schrecklichen Flüstern, das wie das Zischen einer Schlange klang, »warum hast du mir das verschwiegen?« Ich dachte, sie wolle mich erschlagen.
    »Was?« stieß ich zutiefst erschrocken hervor, »was?«
    »Ach!« sagte sie, »vielleicht hast du es nicht gewußt. Höre, mein Holly, höre: dort liegt – dort liegt mein verlorener Kallikrates. Kallikrates ist endlich zu mir zurückgekehrt – ich wußte es ja, ich wußte es, daß er kommen wird!« und sie begann zu schluchzen und zu lachen und sich ganz wie jede andere außer sich geratene Dame aufzuführen, indem sie in einem fort »Kallikrates, Kallikrates!« murmelte.
    ›Unsinn‹, dachte ich bei mir, wagte jedoch nicht, es zu sagen; in diesem Augenblick dachte ich nur an Leos Leben und vergaß in meiner schrecklichen Angst, er könnte sterben, während sie ihren Gefühlen freien Lauf ließ, alles andere.
    »Wenn du ihm nicht hilfst, Ayesha«, unterbrach ich sie, »wird dein Kallikrates dich bald nicht mehr hören können. Sieh doch, er stirbt schon.«
    »Richtig«, sagte sie zusammenzuckend. »Oh, warum kam ich nicht früher? Ich bin so verwirrt – meine Hand zittert – und doch ist es so leicht. Hier, Holly, nimm diese Phiole«, und sie zog eine kleine Tonflasche aus den Falten ihres Gewandes, »und schütte ihm die Flüssigkeit in den Mund. Sie wird ihn heilen, wenn er noch nicht tot ist. Rasch jetzt! Rasch! Er stirbt!«
    Ich warf einen Blick auf ihn; es stimmte, Leo lag im Todeskampf. Sein armes Gesicht färbte sich aschfahl, und ein Röcheln drang aus seiner Kehle. Die Phiole war mit einem kleinen Stück Holz verschlossen. Ich zog es mit den Zähnen heraus, und ein kleiner Tropfen der Flüssigkeit netzte meine Zunge. Sie schmeckte süß, und eine Sekunde lang wurde ich schwindlig und ein Nebel braute sich vor meinen Augen zusammen, doch zum Glück ging dies so schnell vorüber, wie es gekommen war.
    Als ich Leos Lager erreichte, lag er in den letzten Zügen – sein goldgelockter Kopf bewegte sich langsam hin und her, und sein Mund stand ein wenig offen. Ich bat Ayesha, seinen Kopf zu halten, und sie tat es, obwohl sie von Kopf bis Fuß zitterte wie Espenlaub. Dann goß ich ihm, seinen Mund ein wenig weiter öffnend, den Inhalt der Phiole hinein. Ein schwacher Dampf stieg auf, wie wenn man eine Flasche mit Salpetersäure öffnet, und dieser Anblick stärkte nicht gerade meine ohnedies zage Hoffnung auf einen Erfolg dieser Behandlung.
    Eins jedoch war gewiß: der Todeskampf hörte auf – zuerst dachte ich, es sei aus mit ihm und er habe den dunklen Fluß überschritten. Sein Gesicht wurde leichenblaß, und das Schlagen seines Herzens, das ohnedies schon ganz schwach gewesen war, schien gänzlich aufzuhören – nur die Augenlider zuckten

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