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Welt. Du sagst, ein Verbrechen zeugt Böses, doch darin fehlt dir die Erfahrung; denn aus Verbrechen kommt oft Gutes, und aus Gutem oft Böses. Der grausame Zorn des Tyrannen kann zu einem Segen werden für Tausende, die nach ihm kommen, und die Güte eines Heiligen kann ein Volk versklaven. Dieses und jenes tut der Mensch aus Güte oder Bosheit und weiß doch nie, was daraus erwachsen wird; denn wenn er zum Schlag ausholt, weiß er nicht, wohin der Schlag fallen wird, noch kann er die hauchdünnen Fäden zählen, welche die Umstände weben. Gut und Böse, Liebe und Haß, Nacht und Tag, Süßes und Bitteres, Mann und Frau, der Himmel über und die Erde unter uns – all dies ist notwendig, eins fürs andere, doch wer kennt von allem das Ende? Glaube mir, es gibt eine Schicksalshand, die, ihrem Zweck zu dienen, all diese Fäden zusammenflicht zu jenem großen Band, zu dem all diese Dinge notwendig sind. Deshalb steht es uns nicht an zu sagen, dieses ist gut und jenes böse, oder das Dunkel ist häßlich und das Licht schön; denn anderen Augen als den unseren mag das Böse gut und das Dunkel schöner als der Tag erscheinen, oder alles gleich schön. Hörst du, mein Holly?«
Es schien mir hoffnungslos, solcher Kasuistik zu widersprechen, die, bis zu ihrem logischen Ende fortgeführt, jegliche Moral, wie wir sie verstehen, vernichten mußte. Doch ihre Worte erfüllten mich erneut mit Angst, denn was konnte man nicht alles erwarten von einem Wesen, das nicht nur ungehemmt von menschlichem Gesetz, sondern auch ohne jedes moralische Empfinden für Recht und Unrecht war, welches, so parteiisch und konventionell es auch sein mag, dennoch, wie unser Gewissen uns sagt, jenes große Fundament individueller Verantwortung bildet, die den Menschen vom Tier unterscheidet?
Ich war jedoch ehrlich bestrebt, Ustane, die ich schätzte und achtete, vor dem grausigen Geschick, das ihr aus der Hand ihrer mächtigen Rivalin drohte, zu bewahren, und so unternahm ich einen neuen Versuch.
»Ayesha«, sagte ich, »du bist für mich zu spitzfindig; doch du selbst sagtest mir, jeder Mensch solle sich selbst sein Gesetz errichten und dem Rufe seines Herzens folgen. Ist in deinem Herzen kein Mitleid für die, deren Platz du einnehmen möchtest? Bedenke doch: wie du sagst, ist – obwohl mir das Ganze unglaublich erscheint – der Mann, den du ersehntest, nach so langer Zeit zu dir zurückgekehrt, und soeben erst hast du ihn, wie du ebenfalls sagst, dem Rachen des Todes entrissen. Willst du seine Ankunft durch den Mord an dem Mädchen feiern, das ihn liebt und das vielleicht auch er liebt – eines Mädchens, das für dich sein Leben rettete, als deine Sklaven ihm mit ihren Speeren ein Ende bereiten wollten? Du sagtest auch, daß du vor langen Jahren diesem Mann bitter Unrecht tatest, daß du ihn mit deiner eigenen Hand erschlugst, weil er die Ägypterin Amenartas liebte.«
»Woher weißt du das, o Fremdling? Woher kennst du diesen Namen? Ich habe ihn dir nicht gesagt«, schrie sie auf und packte mich am Arm.
»Vielleicht habe ich es geträumt«, entgegnete ich; »in diesen. Höhlen von Kôr hat man seltsame Träume. Doch dieser Traum scheint eine Spur Wahrheit zu enthalten. Was hat dieses tolle Verbrechen dir eingebracht? Zweitausend Jahre des Wartens, habe ich nicht recht? Und du willst das Ganze wiederholen? Sag, was du willst – ich bin überzeugt, es kann nur Böses daraus kommen; denn wer Gutes tut, erntet Gutes, und wer Böses tut, erntet Böses, wenn auch in späteren Zeiten aus dem Bösen Gutes kommen mag. Ärgernis muß sein; doch wehe dem, durch den das Ärgernis kommt. So sprach jener Messias, von dem ich dir erzählte, und er hat wahr gesprochen. Wenn du dieses unschuldige Weib erschlägst, so wirst du verflucht sein und von dem alten Baum deiner Liebe keine Frucht pflücken. Was denkst du nur? Glaubst du, dieser Mann wird dich nehmen, wenn du mit Händen, die mit dem Blute jener, die ihn liebte und pflegte, befleckt sind, vor ihn trittst?«
»Was das betrifft«, erwiderte sie, »so hast du meine Antwort bereits gehört. Selbst wenn ich dich wie sie erschlüge, würde er mich dennoch lieben, Holly, weil er sich davor ebensowenig retten könnte wie du dich vor dem Tode, wenn es mir einfiele, dich zu erschlagen, o Holly. Und doch mag ein wenig Wahrheit in deinen Worten liegen, denn irgendwie machen sie Eindruck auf mich. Wenn es sein kann, so will ich dieses Weib schonen – habe ich dir nicht gesagt, daß ich nicht um der
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