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Titel: Sie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Rider Haggard
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geliebt, daß es seinetwegen in den Tod gegangen war. Doch so schrecklich und verworfen es klingen mag, sollte man ihn doch nicht allzusehr tadeln und bedenken, daß er für seine Sünde dereinst büßen wird. Die Versucherin, die ihn zum Bösen verlockte, war mehr als ein Mensch und ihre Schönheit größer als die der Menschentöchter.
    Ich blickte wieder auf, und nun lag ihre herrliche Gestalt in seinen Armen, und ihre Lippen preßten sich auf die seinen; und so, mit der Leiche seiner Geliebten als Altar, verlobte Leo Vincey sich ihrer verruchten Mörderin, verlobte sich ihr auf immer und ewig. Denn jene, die sich auf diese Weise für den Preis ihrer eigenen Ehre verkaufen und ihre Seele in die Waagschale werfen, damit die Waage sich zu dem Niveau ihrer Lüste niedersenke, können weder in diesem noch im jenseitigen Leben auf Erlösung hoffen. Was sie gesät haben, werden sie wieder und wieder ernten, wenn die Mohnblumen der Leidenschaft in ihren Händen längst verdorrt sind, und ihre Ernte sind nur bittere Wicken.
    Plötzlich entschlüpfte sie mit einer schlangengleichen Bewegung seinen Armen und stieß wieder triumphierend ihr leises, spöttisches Lachen aus.
    »Habe ich dir nicht gesagt, daß du in einer kleinen Weile mir zu Füßen liegen wirst, o Kallikrates? Und siehe, es hat gar nicht lange gedauert!«
    Leo stöhnte vor Scham und Qual, denn so sehr er ihr auch verfallen sein mochte, schien er sich doch bewußt, wie tief er gesunken war. Ja, wie ich später deutlich merkte, lehnte sich sogar seine bessere Natur mit aller Kraft gegen sein gefallenes Ich auf.
    Ayesha lachte wieder und verschleierte sich rasch. Dann gab sie dem stummen Mädchen, das das Ganze mit neugierigem, furchtsamem Blick beobachtet hatte, einen Wink. Das Mädchen entfernte sich und kam gleich darauf mit zwei männlichen Stummen zurück, denen die Königin gleichfalls einen Wink gab. Daraufhin ergriffen alle drei die arme Ustane bei den Armen und schleppten sie aus der Höhle hinaus. Leo blickte der Leiche nach und bedeckte dann die Augen mit der Hand, und in meiner überreizten Phantasie schien es mir, als blicke die Leiche, als man sie hinaustrug, uns an.
    »Da geht sie hin, die tote Vergangenheit«, sagte Ayesha feierlich, als die Vorhänge, nachdem die unheimliche Prozession verschwunden war, sich schlossen. Und dann warf sie in einem jener merkwürdigen Stimmungswechsel, die ich bereits erwähnte, ihren Schleier wieder ab und stimmte nach der alten poetischen Sitte der Araber einen Lobgesang an, welcher, so wild und schön er war, nur überaus schwierig zu übersetzen ist und eigentlich nicht niedergeschrieben und vorgelesen, sondern nach Art einer Kantate gesungen werden sollte. Er bestand aus zwei Teilen – einem allgemeinen und einem persönlichen – und lautete, soweit ich mich erinnern kann, etwa wie folgt:
     
    »Die Liebe gleicht einer Blume in der Wüste.
    Sie gleicht der Aloe Arabiens, die einmal nur blüht und stirbt;
    sie blüht in der Salzwüste des Lebens und ihre Schönheit strahlt über ihr wie ein Stern über einem Sturm.
    Sie hat die Sonne, die der Geist ist, über sich, und der Wind ihrer Göttlichkeit weht über ihr.
    Beim Laute eines Schritts erblüht die Liebe und neigt ihre Schönheit zu dem Wanderer.
    Er pflückt sie, ja, er pflückt den roten Kelch, der voll von Honig ist, und trägt ihn fort; fort durch die Wüste, fort, bis die Blume welkt, fort bis an der Wüste Ende.
    Es gibt nur eine schöne Blume in der Wildnis des Lebens. Diese Blume ist die Liebe!
    Es gibt nur einen Fixstern über dem Dunkel unseres Weges. Dieser Stern ist die Liebe!
    Es gibt nur eine Hoffnung in unserer Verzweiflung Nacht. Diese Hoffnung ist die Liebe!
    Alles andere ist trügerisch. Alles andere ist Schatten auf dem Wasser. Alles andere ist Wind und Eitelkeit.
    Wer vermag zu sagen, was das Gewicht, das Maß der Liebe ist?
    Vom Fleisch wird sie geboren, im Geiste wohnt sie. Aus beiden zieht sie ihre Kraft.
    Denn die Schönheit ist wie ein Stern.
    Vielfältig sind ihre Formen, doch alle sind sie schön, und niemand weiß, wo der Stern aufging, niemand kennt den Horizont, hinter dem er untergehen wird.«
     
    Nun wandte sie sich an Leo, legte ihre Hand auf seine Schulter und fuhr in noch triumphierenderem Ton in abgemessenen Sätzen fort, die sich allmählich aus stilisierter Prosa in reine, majestätische Verse verwandelten:
     
    »Wie lange liebte ich dich, mein Geliebter; und doch hat meine Liebe niemals nachgelassen.
    Wie lange

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