Sie
habe ich auf dich gewartet, und siehe, nun wird mir mein Lohn zuteil!
In fernen Zeiten bist du einmal schon mein gewesen, doch man entriß dich mir.
Ich säte in ein Grab die Saat der Geduld und ließ die Sonne meiner Hoffnung darauf scheinen und tränkte sie mit den Tränen der Reue und hauchte sie an mit dem Atem meines Wissens. Und nun, siehe, ist sie aufgegangen und trägt Früchte. Siehe! Aus dem Grab ist sie erblüht, zwischen trockenen Gebeinen und der Toten Asche. Darum frohlockte ich, denn schön ist die Zukunft.
Grün sind die Pfade, auf denen über ewig frische Weiden wir schreiten werden.
Dies ist unsere Stunde. In die Täler flüchtete die Nacht.
Die Morgensonne küßt die Bergesgipfel.
Sanft ruhen wir, Geliebter, leicht wandeln wir dahin.
Man wird uns krönen mit dem Diadem der Könige.
Der Erde Völker werden uns verehren und bewundern,
Vor unserer Macht und Schönheit selbst Blinde niedersinken.
Durch Zeit und Ewigkeit soll unsere Größe brausen,
Gleich einem Prunkgefährt endloser Straßen Staub durchrollend,
Und lachend eilen wir dahin in Sieg und Pracht,
Lachend wie Sonnenlicht, das auf den morgendlichen Hügeln tanzt,
Voran, von Triumph zu Triumph fliegend.
Voran, stets neuer unerreichter Macht entgegen,
Voran, ohne Müdigkeit, in ein Gewand aus Sonnenglanz gekleidet,
Bis unser Schicksal sich vollendet und Nacht auf uns herniederstürzt.«
Sie hielt inne in ihrem seltsamen und höchst ergreifenden allegorischen Gesang, den ich leider nur sehr unvollkommen wiederzugeben vermag, und sagte:
»Vielleicht glaubst du mir nicht, Kallikrates – vielleicht denkst du, daß ich dich täusche, daß ich nicht all diese vielen Jahre gelebt habe und du mir nicht wiedergeboren wurdest. Nein, blicke nicht so drein – lege diese zweifelnde Miene ab, denn sei gewiß, hier hat der Irrtum keinen Raum! Eher soll die Sonne ihre Bahn verfehlen und die Schwalbe ihr Nest nicht finden, als meine Seele eine Lüge schwören, die mich noch einmal von dir trennte, Kallikrates. Blende mich, nimm mir mein Augenlicht und lasse Finsternis mich umhüllen – dennoch würden meine Ohren den Klang deiner unvergessenen Stimme erkennen, die stärker an die Pforten meiner Sinne schlägt als der Ruf eherner Trompeten; nimm mir auch mein Gehör und lasse tausend Hände meine Stirn berühren – die deine würde unter ihnen allen ich erspüren; ja raube alle meine Sinne mir, auf daß ich taub und blind und stumm bin und meine Nerven keinerlei Berührung fühlen – mein Geist würde dennoch auffahren wie ein aus dem Schlaf geschrecktes Kind und meinem Herzen zurufen: Kallikrates ist hier! Der Nächte Wachen sind beendet! Der, den du suchtest in der Nacht, dein Morgenstern, ist aufgegangen!«
Sie schwieg einen Augenblick und fuhr dann fort: »Doch halt! Sollte dein Herz der machtvollen Wahrheit sich immer noch verschließen und du, die Seltsamkeit alles dessen nicht begreifend, ein weiteres Unterpfand dafür fordern, so will ich es dir – und auch dir, o mein Holly – sogleich geben. Nehmt jeder eine Lampe und folgt mir, wohin ich euch führe.«
Ohne uns auch nur einen Augenblick zu besinnen – ich für meinen Teil hatte es nahezu aufgegeben nachzudenken, da jeder Gedanke hilflos gegen eine schwarze Mauer des Rätselhaften stieß –, nahmen wir die Lampen und folgten ihr. Am Ende ihres ›Boudoirs‹ hob sie einen Vorhang in die Höhe und wies auf eine kleine Treppe, wie sie in diesen düsteren Höhlen von Kôr so zahlreich sind. Als wir die Treppe hinabstiegen, bemerkte ich, daß die Stufen in der Mitte dermaßen ausgetreten waren, daß sich bei ihnen die mutmaßliche ursprüngliche Höhe von siebeneinhalb Zoll auf etwa dreieinhalb Zoll verringert hatte. Nun waren alle anderen Treppen, die ich bisher in den Höhlen gesehen hatte, so gut wie nicht abgenützt, was auch nicht wunder nimmt, wenn man bedenkt, daß man sich ihrer nur bediente, wenn man Leichen zu den Grabkammern trug. Deshalb machte diese Tatsache auf mich einen seltsam starken Eindruck, so wie uns ja immer Kleinigkeiten dann überaus stark berühren, wenn uns innerlich ein plötzlicher Ansturm mächtiger Gefühle überwältigt.
Am Fuß der Treppe blieb ich stehen und starrte auf die ausgetretenen Stufen, was Ayesha, als sie sich mir zuwandte, bemerkte.
»Du fragst dich wohl, wessen Füße den Fels so ausgetreten haben, mein Holly?« sagte sie. »Die meinen waren es – so leicht sie auch sind! Ich entsinne mich noch, wie glatt und eben diese
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