Sie
Stufen dereinst waren, doch ich bin sie zweitausend Jahre lang und mehr Tag für Tag hinabgestiegen, und so haben meine Sandalen den festen Stein abgenützt!«
Ich schwieg, denn nichts, was ich bisher gehört oder gesehen, hatte meinem beschränkten Verstand das überwältigende Alter dieses Geschöpfes so deutlich bewußt gemacht wie dieser von ihren weichen weißen Füßen ausgehöhlte harte Granit. Wie viele hunderttausend Mal mußte sie diese Treppe hinab und hinauf gestiegen sein, um dieses Resultat zu erzielen?
Die Treppe führte zu einem Tunnel, und nach einigen weiteren Schritten gelangten wir zu einer wie üblich mit einem Vorhang verhangenen Tür, in der ich auf den ersten Blick jene erkannte, hinter welcher stehend ich Zeuge der schrecklichen Szene mit der springenden Flamme gewesen war. Das Muster des Vorhangs erinnerte mich so lebhaft an das furchtbare Ereignis, daß ich erschauderte. Ayesha trat in die Gruft, denn eine solche war es, und wir folgten ihr – ich voll Freude, daß das Geheimnis dieses Ortes nun gelüftet werden sollte, und zugleich voll Furcht vor seiner Lösung.
21
Der Tote und der Lebende begegnen sich
»Dies ist der Raum, in dem ich zweitausend Jahre lang geschlafen habe«, sagte Ayesha, Leo die Lampe aus der Hand nehmend und sie über ihren Kopf haltend. Ihr Schein fiel auf eine kleine Vertiefung im Boden, aus dem in jener Nacht die Flamme emporgesprungen war, doch nun brannte kein Feuer. Er fiel auf die unter ihren Tüchern ausgestreckte Gestalt auf der Steinbank, auf die Skulpturen und auf eine zweite Steinbank, die auf der anderen Seite der Höhle jener, auf welcher die Gestalt lag, gegenüber stand.
»Hier«, fuhr Ayesha, ihre Hand auf den Felsen legend, fort, »schlief ich all die Zeit lang, nur mit einem Mantel zugedeckt. Es schien mir nicht recht, weich zu ruhen, wenn mein Geliebter«, sie deutete auf die Gestalt, »in Todesstarre lag. Hier schlief ich Nacht für Nacht an des Toten Seite – bis, siehst du, diese dicke Platte gleich der Treppe, die wir herunterstiegen, dünn wurde vom Herumwälzen meines Körpers – so treu bin ich dir selbst in deinem Schlaf gewesen, Kallikrates. Und nun, mein Geliebter, sollst du ein Wunder sehen – sollst lebend als Toten dich betrachten –, denn ich habe all diese Jahre gut für dich gesorgt, Kallikrates. Bist du bereit?«
Wir gaben keine Antwort, sondern blickten einander nur furchtsam an, so unheimlich und feierlich war die Szene. Ayesha trat vor, legte ihre Hand auf den Saum des Leichentuches und hub wieder zu sprechen an.
»Erschrick nicht«, sagte sie, »wenn dir dies auch wundersam erscheinen mag – alle wir Lebenden haben bereits früher gelebt; nicht einmal unsere äußere Hülle ist der Sonne fremd! Wir wissen nur nichts davon, denn unsere Erinnerung daran ist getilgt und die Erde, aus der wir geschaffen waren, zurückgekehrt zur Erde und hat unseren Ruhm mit ins Grab genommen. Ich jedoch konnte dich dank meiner Künste und der Künste jenes versunkenen Volks von Kôr, die ich mir angeeignet habe, vor dem Verfall zu Staub bewahren, o Kallikrates, und den wächsernen Stempel der Schönheit auf deinem Antlitz meinem Auge auf ewig erhalten. Es war eine Maske, welche die Erinnerung mit Leben füllte, mit deren Hilfe ich deine Gegenwart aus der Vergangenheit heraufbeschwor, so daß du, erfüllt mit einem Schein von Leben, durch die Behausungen meiner Gedanken wandertest und mein Verlangen mit Visionen von vergangenen Tagen stilltest.
Siehe, nun begegnen sich der Tote und der Lebende! Über die Schlucht der Zeit hinweg sind sie vereint. Die Zeit hat keine Macht über die Persönlichkeit, hat auch der gnädige Schlaf die Tafeln der Erinnerung gelöscht und mit Vergessen das Leid verhüllt, das uns ansonsten von einem Leben in das andere verfolgen und unser Hirn mit Kummer derart füllen würde, bis es im Wahnsinn äußerster Verzweiflung zerspringen müßte. Noch immer sind sie eins, denn unseres Schlafes Hüllen werden jetzt hinweggerissen wie Gewitterwolken vom Sturmwind; die erstarrten Stimmen der Vergangenheit zerschmelzen zu Musik wie Schnee auf Bergesgipfeln unter der Sonne Strahlen, und das Weinen und Lachen vergangener Zeiten hallt erneut süß wider von den Klippen der Ewigkeit.
Deshalb fürchte dich nicht, Kallikrates, wenn du nun – soeben wiedergeboren und lebend – auf dein eigenes dahingeschiedenes Selbst blicken wirst, das vor so langer Zeit lebte und starb. Ich wende nur ein Blatt im Buch des
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