Sie
Seins und zeige dir, was auf ihm geschrieben steht. Siehe!«
Mit einer raschen Bewegung zog sie das Tuch von dem Leichnam und ließ das Licht der Lampe auf ihn fallen. Ich blickte hin und schreckte entsetzt zurück; denn was sie auch zur Erklärung gesagt haben mochte, es war ein unheimlicher Anblick – ihre Erklärungen gingen über das Fassungsvermögen unseres begrenzten Verstandes hinaus und trugen, entblößt des Schleiers dunkler esoterischer Philosophie und der kalten, furchtbaren Tatsache konfrontiert, nicht viel dazu bei, den gewaltigen Eindruck zu mildern. Denn ausgestreckt auf jener Steinbank vor uns, in Weiß gekleidet und vollkommen erhalten, schien Leo Vinceys Gestalt zu liegen. Ich blickte mit aufgerissenen Augen von dem Leo, der lebend neben mir stand, auf den Leo, der tot dort lag, und bemerkte keinen Unterschied; außer vielleicht dem einen, daß jener auf der Bahre älter aussah. Sie glichen einander in jeder Einzelheit, bis zu der Fülle kleiner goldener Locken, welche das Schönste an Leo ist. Es schien mir sogar, als ähnele der Ausdruck auf dem Gesicht des Toten jenem, den ich zuweilen bei Leo gesehen hatte, wenn er in tiefem Schlaf lag. Ich kann diese außerordentliche Ähnlichkeit nur mit dem Hinweis unterstreichen, daß ich niemals Zwillinge sah, die einander derart glichen wie dieser Lebende und dieser Tote.
Ich wandte den Kopf, um zu sehen, welchen Eindruck der Anblick seines toten Selbst auf Leo machte, und er schien mir wie betäubt. Zwei oder drei Minuten stand er schweigend und auf den Toten starrend da, um schließlich hervorzustoßen:
»Deckt ihn zu und bringt mich fort von hier.«
»Nein, warte, Kallikrates«, sagte Ayesha, welche mit der hocherhobenen Lampe, deren Licht auf ihre hinreißende Schönheit und die tote Gestalt auf der Bahre fiel, eher einer erleuchteten Sibylle denn einem Weib glich und die ihre majestätischen Sätze mit einer Erhabenheit und Poesie sprach, die wiederzugeben ich leider gänzlich außerstande bin.
»Warte, ich will dir noch etwas zeigen, auf daß auch kein noch so geringer Teil meines Verbrechens dir verborgen bleibt, öffne du, o Holly, das Gewand auf der Brust des toten Kallikrates, da mein Gebieter sich vielleicht fürchtet, sein verblichenes Selbst zu berühren.«
Mit zitternden Händen gehorchte ich, denn es schien mir ein Frevel und eine Entweihung, mit dem schlafenden Ebenbild des Lebenden neben mir so umzugehen. Gleich darauf lag seine Brust entblößt vor uns, und gerade über dem Herzen sah man eine offenbar von einem Speer oder einem Dolch zugefügte Wunde.
»Siehe, Kallikrates«, sagte sie. »Wisse, daß ich es war, die dich tötete, die an der Stätte des Lebens dir den Tod gab. Ich tat es der Ägypterin Amenartas wegen, die du liebtest, denn sie hatte mit ihren Ränken dein Herz umgarnt. Sie selbst konnte ich nicht erschlagen wie jetzt jenes Mädchen, denn sie war zu stark für mich. In meinem bitteren Zorn tötete ich dich, und auf deine Wiederkehr habe ich all die Zeit trauernd geharrt. Nun bist du gekommen, und nichts kann uns mehr trennen. Wahrlich, statt des Todes will ich dir nun das Leben geben – nicht ewiges Leben, denn dieses kann niemand geben, doch Leben und Jugend, die Tausende und Tausende von Jahren dauern werden, und dazu Ruhm und Macht und Reichtum und alles Gute und Schöne, wie es kein Mensch noch vor dir besessen hat und keiner nach dir besitzen wird. Nur eines noch, dann sollst du ruhen und dich rüsten für den Tag deiner Wiedergeburt. Sieh diesen Körper hier, der einst der deine war. In all den Jahrhunderten war er mein kalter Trost und mein Gefährte, doch nun bedarf ich seiner nicht mehr, denn deine lebende Gegenwart ist ja mein, und er würde nur Erinnerungen in mir wecken, die ich lieber vergessen möchte. Darum mag er jetzt zu Staub werden, wovor ich ihn so lange bewahrte. Siehe! Ich habe für diese glückliche Stunde alles vorbereitet!«
Und sie ging zu der anderen Steinbank, die ihr nach ihren Worten als Bett gedient hatte, und nahm davon einen großen glasierten Krug mit zwei Henkeln, dessen Öffnung mit einer Blase verschlossen war. Sie löste diese, neigte sich über den Toten, küßte ihn sanft auf den Mund und leerte den Inhalt des Kruges sorgfältig über seinen Körper, wobei sie, wie ich bemerkte, äußerst besorgt war, daß kein Tropfen davon sie oder uns traf. Den Rest der Flüssigkeit schüttete sie auf Brust und Kopf. Sogleich stieg ein dichter Dampf auf, und ein erstickender Dunst
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