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Titel: Sie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Rider Haggard
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erfüllte die Höhle, so daß wir nicht sehen konnten, wie die tödliche Säure – denn um eine solche schien es sich zu handeln – ihr zerstörerisches Werk tat. Von der Stelle, wo der Leichnam lag, drang ein gräßliches Zischen und Prasseln zu uns, welches jedoch aufhörte, bevor die Dämpfe sich noch verzogen hatten. Schließlich waren sie alle verschwunden, bis auf eine kleine Wolke, die über dem Toten schwebte. Nach wenigen Minuten hatte auch sie sich aufgelöst, und so unglaublich es auch scheinen mag – auf der Steinbank, welche die sterblichen Überreste des einstigen Kallikrates so viele Jahrhunderte lang getragen hatte, war nun nichts mehr zu sehen als ein paar Handvoll rauchenden weißen Staubes. Die Säure hatte den Körper gänzlich zerstört und sich stellenweise sogar in den Stein eingefressen. Ayesha beugte sich nieder, nahm eine Handvoll dieses Staubes, warf ihn in die Luft und sagte zugleich mit ruhiger, feierlicher Stimme:
    »Staub zu Staub! – Vergangenes zum Vergangenen! – Der Tote zu den Toten! – Kallikrates ist tot, und er ist neugeboren!«
    Die Asche schwebte lautlos auf den steinigen Boden nieder, und wir standen in ehrfurchtsvollem Schweigen und blickten ihr nach.
    »Nun laßt mich allein«, sagte sie. »Schlaft, wenn ihr wollt. Ich muß wachen und nachdenken, denn morgen abend werden wir von hier fortgehen, und es ist lange her, seit ich auf jenem Pfad, dem wir folgen müssen, wandelte.«
    So verbeugten wir uns denn und entfernten uns.
    Auf dem Weg zu unseren Gemächern schaute ich in Jobs Kammer, um zu sehen, wie es ihm ging, denn er war vor unserem Gespräch mit der ermordeten Ustane, noch ganz überwältigt von den Schrecknissen des Amahaggerfestes, davongelaufen. Er lag in tiefem Schlaf, der gute, brave Bursche, und ich war froh, daß seinen Nerven – wie bei den meisten ungebildeten Menschen nicht die besten – die letzten Szenen dieses fürchterlichen Tages erspart geblieben waren. Sodann betraten wir unsere eigene Kammer, und hier ließ endlich der arme Leo, welcher sich, seit er auf das starre Ebenbild seines Selbst geblickt, nahezu in einem Zustand der Betäubung befand, seinen Gefühlen freien Lauf. Nun, da die schreckliche ›Sie‹ nicht mehr anwesend war, brach das Bewußtsein all der furchtbaren Geschehnisse, vor allem des ruchlosen Mordes an der ihm so teuren Ustane, wie ein Sturm über ihn herein und erfüllte ihn mit unsagbarer Qual und Reue. Er verfluchte sich selbst, verfluchte die Stunde, da wir die Inschrift auf der Scherbe, deren Inhalt sich auf so mysteriöse Weise bewahrheitete, entdeckt hatten, verfluchte bitterlich seine Schwäche. Ayesha wagte er nicht zu verfluchen – wer hätte es wohl auch gewagt, einem Weibe, das uns möglicherweise in diesem Augenblick mittels ihrer geheimen Kräfte beobachtete, Böses zu wünschen?
    »Was soll ich tun, alter Freund?« stöhnte er und legte, von seinem Kummer übermannt, den Kopf auf meine Schulter. »Ich ließ ihre Ermordung zu – zwar hätte ich sie nicht verhindern können, doch fünf Minuten später küßte ich über ihrer Leiche ihre Mörderin. Ich bin ein hundsgemeiner Lump, doch kann ich«, hier sank seine Stimme, »dieser grauenhaften Zauberin nicht widerstehen. Ich weiß, morgen werde ich es wieder tun; ich weiß, ich bin ihr auf ewig verfallen; selbst wenn ich sie nie wiedersähe, könnte ich mein Leben lang an niemand anderen denken; ich muß ihr folgen wie eine Nadel dem Magneten; selbst wenn ich könnte, würde ich jetzt nicht fortgehen; ich könnte sie nicht verlassen, meine Beine würden mir den Dienst versagen; doch mein Verstand ist noch immer klar genug, und mit meinem Verstand hasse ich sie – zumindest glaube ich dies. Wie furchtbar ist dies alles! Und dieser – dieser Leichnam! Was soll ich nur davon halten? Dieser Leichnam war wirklich ich! Ich bin ihr Sklave, alter Freund, und sie wird mir meine Seele nehmen!«
    Darauf gestand ich ihm, daß ich selbst mich in keiner viel besseren Lage befand; und ich muß es ihm hoch anrechnen, daß er trotz seiner Leidenschaft die Anständigkeit besaß, mich seines Mitgefühls zu versichern. Vielleicht hielt er es für töricht, eifersüchtig zu sein, da er doch wußte, daß er, soweit es die Dame betraf, keinen Grund dazu hatte. Ich schlug ihm vor, einen Fluchtversuch zu unternehmen, doch wir gaben diesen Plan bald als aussichtslos auf, und, um ganz ehrlich zu sein: ich glaube nicht, daß einer von uns es über sich gebracht hätte, Ayesha zu

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