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'Sie können aber gut Deutsch'

'Sie können aber gut Deutsch'

Titel: 'Sie können aber gut Deutsch' Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Gorelik
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Eltern hatten viele dieser leeren Hefte mitgebracht, weil Gerüchte, die unter Auswanderwilligen in der Sowjetunion in Umlauf waren, besagten, dass Schulhefte in Deutschland teuer seien. Waren sie aus unserer Arbeitslosen-Neuankömmlinge-Sicht ja auch, weshalb ich also die russischen Hefte mit in die Schule nahm, die dort toleriert wurden.
    Ebenso wie meine Frisur, die mein Mann später anhand der Fotos aus dieser Zeit als »Turmfrisur« betitelte – eine Frisur, die die meisten russischen Mädchen meines Alters trugen, an den Seiten kurz und oben lang, weshalb meine vielen Locken meinen Kopf nicht nur unmodisch, sondern auch unvorteilhaft nach oben hin verlängerten, ein wenig wie bei Marge Simpson, und die mir eine ukrainische Friseurin in der Küche unseres Asylbewerberwohnheims, die wir sowie fünfzehn weitere Familien miteinander teilten, regelmäßig verpasste, während meine Mutter und andere Mütter russische Pausenbrote für uns schmierten, die nun ja, das wusste ich
damals, während ich den Müttern zusah und zuhörte, toleriert werden würden.
    Vor lauter Toleranz hatte ich, die damals Elfjährige, nur einen Wunsch: nicht mehr toleriert werden zu müssen. Weshalb mein einziges Bestreben der kommenden Jahre darin bestehen sollte, all das abzulegen, was toleriert werden könnte, und so zu werden wie die anderen. Nicht mehr aufzufallen, in der deutsch-blonden Masse zu verschwinden. In meiner ehrlichen kindlichen Sprache von damals formuliert: deutsch zu werden. Ich färbte mir die Haare blond, ich schmierte mir meine Pausenbrote bald selbst, schnitt sie so zurecht, dass sie perfekt in die Vesperdosen passten und somit nicht anders aussahen als die meiner Mitschüler. Sah möglichst davon ab, Freunde aus der Schule nachhause einzuladen, ein Zuhause, das erst das Asylbewerberwohnheim war und sich später, unser großer Aufstieg, in einer Wohnhaussiedlung befand, die aus ehemaligen amerikanischen Offizierskasernen entstanden war. In Letzterer durften mich meine Freunde dann ab und zu besuchen, auch wenn ich ihren Eltern anmerkte, dass sie ein wenig um ihre Kinder fürchteten, wenn diese bei uns waren, aber sie wollten mich, die russische Freundin, dann doch tolerieren. Im Sprachgebrauch dieser Eltern war ich immer »die russische Freundin«. Bekam ich Besuch, so nahm ich meiner Mutter das Kochen ab. Meine Mutter, die russische Gerichte kochte, die sie in sowjetischem Geschirr servierte, war mir peinlich. In jener Zeit, die leider viel zu lange dauerte, war mir meine Familie des Öfteren peinlich, wofür ich mich heute in Grund und Boden schäme. Aber so groß war mein Wunsch, nicht mehr nur toleriert zu werden wie ein Mensch zweiter Klasse, der anders, aber, wir wollen mal nicht so sein, auch irgendwie willkommen ist, zumindest ein wenig, zumindest ab und zu, dass ich meine Familie verriet. Immer wieder, jeden
Tag aufs Neue, etwa wenn ich mir als Einzige wünschte, nicht von einer Klassenfahrt abgeholt zu werden, damit keiner meine Eltern sah, die nicht wie alle anderen mit dem Auto, sondern mit dem Bus kamen. So bestrebt war ich, deutsch zu werden, nicht mehr aufzufallen, mit meinen mittlerweile blondierten Haaren (nur die grünen Augen ließen sich nicht gegen blaue eintauschen), dass ich nicht nur meine Familie, sondern damit auch zunehmend mich selbst verleugnete. Bis ich nicht mehr wusste, wer oder was ich war, wo ich hingehörte, wer zu mir gehörte und überhaupt.
    Wie erstaunt, wie schockiert ich doch war, als ich ein paar Jahre später junge Menschen traf, die ein ähnliches Schicksal ereilt hatte wie mich. (So empfand ich die Situation, meinen Migrationshintergrund, damals: als ein schweres Schicksal, das mich ereilt hatte, ein Unglück, das nicht zu verhindern gewesen war, das große Pech, nicht von Geburt an Müller oder Meyer geheißen zu haben, sondern Gorelik! Gorelik, die Gorelik aus Russland, ich kam mir gebrandmarkt vor.) Aber die jungen Menschen, die ich traf, die gingen bewusst und selbstbewusst mit diesem vermeintlichen Makel um, waren gar stolz darauf, eine andere Herkunft zu haben, schienen davon zu zehren und zu profitieren, vor allem aber versteckten sie sie nicht. Im Gegensatz zu mir, die ich alle Spuren meiner Herkunft beseitigte und damit mich selbst aufgab und damit so schwer beschäftigt war, dass ich unglücklich wurde, ohne es zu merken. Meine neuen Freunde, die auch nicht von Geburt an Müller oder Meyer geheißen hatten, stellten unsere gemeinsamen deutschen Bekannten ihren

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