'Sie können aber gut Deutsch'
aufgab. Gemäß den Anforderungen des Stipendienprogramms war sie ehrenamtlich aktiv, und zwar in jeder Einrichtung ihrer Schule, sie drückte sich
gewählt aus und war höflich, wie eine langweilige Streberin wirkte sie jedoch nicht. In ihrer Bewerbung hatte sie von dem besonderen Lebensgefühl geschrieben, das sich aus der simultanen Bewegung zwischen zwei unterschiedlichen Welten ergebe, »der Welt der Eltern, die einem innerlich vertraut und doch fremd ist, weil sie weit entfernt ist, und der unmittelbar wahrzunehmenden Welt der Freunde, Schule, in der man aufwächst, sich entwickelt, lebt«. Von diesem Lebensgefühl schien sie auf eine Weise zu profitieren und zu zehren, dass man neidisch werden konnte.
Dieser Bewerberin folgte eine andere, die man – würde man in den Medien von ihren Lebensrahmenbedingungen hören – leicht abstempeln könnte als eine von denen, die ein Problemfall sind, sich nie integrieren werden, gar in einer Zwangsehe landen. Die Rahmenbedingungen waren: Eltern Türken, sie in Deutschland geboren, aber türkische Staatsangehörige, der Vater arbeitslos und krank, die Mutter als Reinigungskraft in einem Schwimmbad tätig, in das sie die Kinder mitnimmt, damit sie ihr bei der Arbeit helfen. Bis zum Kindergarteneintritt hatte die Schülerin die deutsche Sprache höchstens mal im Supermarkt gehört, nach der Grundschule hatte sie eine Hauptschulempfehlung bekommen, daneben besuchte sie noch die türkische Schule – und jetzt unterdrücken alle bitte mal den folgenden Gedanken: Was lernt man denn dort?
Man meint zu wissen, wie die Geschichte dieses Mädchens weitergeht; man meint es, bis man sie trifft und einem eine starke junge Frau begegnet, die mit belegter Stimme von ihrem kranken Vater erzählt, der früher einmal Schweißer gewesen war, aufgrund von Stellenstreichungen seine Arbeit verlor, dann jahrelang eine neue suchte, wegen seines hohen Alters aber keine fand, inzwischen zu krank zum Arbeiten ist,
und – das ist für alle Familienmitglieder noch schlimmer als die problematische finanzielle Situation – mit sich selbst nicht mehr zurechtkommt. Die starke, selbstbewusste, junge Frau erzählt auch, wie ihre, kaum Deutsch sprechende Mutter sie nach der Hauptschulempfehlung zu einem Eignungstest anmeldete, den sie mit Bravour bestand, wie sie es dann auf die Realschule und später aufs Gymnasium schaffte. Sie kann plausibel erklären, warum ihr der Abschluss an der türkischen Schule so wichtig war, warum sie die türkische Kultur und Sprache lernen wollte. Warum sie, wenn sie nicht Hausaufgaben macht, im Verein Volleyball spielt, sich um die jüngeren Geschwister kümmert, mit Nachhilfe Geld verdient, das in die Familienkasse fließt, ihre Mutter bei deren Arbeit unterstützt, sich mit dem älteren Bruder streitet, mit dem sie das Zimmer teilt und der mit seiner Meinung zu ihrem Kleidungsstil oder ihrer Freundeswahl durchaus nicht hinter dem Berg hält, oder Aufgaben in der Schülermitverwaltung übernimmt, in der Folkloregruppe des ortsansässigen Türkischen Kulturvereins tanzt. Sie war 17 Jahre alt, als sie sich bewarb.
Diese beiden Leben sind Realität. Und für diejenigen, die jetzt einwenden werden, dass die beiden eine Ausnahme seien, dass der Alltag der Mehrheit der Migranten doch leider anders aussehe: Nein, das tut er nicht. Ähnlich wie bei deutschen Jugendlichen, ähnlich wie in allen Nationen, allen Gruppen dieser Welt gibt es die Ausnahmen, links und rechts der Mitte, und ebendiese Mitte, die den Großteil der Menschen umfasst. Diese Realität zu erkennen ist ein Schritt in die notwendige Richtung. Diese Richtung ist die der Demokratie.
Wir sprechen über Integration, wir sprechen über Assimilation, wir sprechen über Zuwanderung und Multikulturalität, aber sprechen sollten wir über Demokratie. Demokratie, da sind sich ausnahmsweise mal fast alle einig, ist die Basis, auf
der dieses Land steht. Und zu einer Demokratie gehört es nun einmal, Menschen mit höchst unterschiedlichen Ideen, Geschichten, Physiognomien, Herkünften, Zukunftsvorstellungen, Vorlieben, Charakteren und Lebensläufen zu akzeptieren, für sie in einem großen Etwas – nämlich dem Land, der Demokratie – einen Platz zu finden. In einer Demokratie haben alle Pflichten, aber auch Rechte, nicht zuletzt das Recht, ihr Leben selbstbestimmt zu führen. Das heißt, sich seine Religion, seine Bräuche, seine Traditionen, seine Sprache, seinen Alltag selbstbestimmt zu wählen, solange man
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