'Sie können aber gut Deutsch'
ich viel Gutes gehört hatte. In dem Moment hatte ich das Gefühl gehabt, gehofft, vielleicht auch so ein Mensch für jemanden sein zu können. So jedenfalls lernte ich D. kennen.
D. war acht Jahre alt und lebte in einem Stadtviertel, in dem ich vorher noch niemals gewesen bin und dessen Name – Hasenbergl – in München immer ein wenig so klingt, als sollte man da vorsichtshalber auch besser nicht hin. (Umso erstaunter war ich, dort zum ersten Mal aus der U-Bahn
aussteigend, wie unaufgeregt, aufgeräumt und ungefährlich Münchnerisch es wohl war.) D. sprach Deutsch mit einem albanischen Akzent, sie rollte das »R«, verwechselte manchmal die grammatikalischen Zeiten und trug gerne Glitzer und Rosa. D.’s Mutter sprach überhaupt kein Deutsch, ihren Vater traf ich nie, weil er zwei Jobs hatte und erst so spät nachhause kam, dass wir einander kein einziges Mal über den Weg liefen. In D.’s Wohnzimmer, in dem wir auch deutsche Grammatik, Rechtschreibung, Multiplizieren und Dividieren übten, stand der größte Fernseher, den ich jemals in einem privaten Haushalt gesehen habe. Später wurde eigens für diesen Fernseher eine neue Schrankwand angeschafft, in die alte hatte er nicht gepasst.
Wenn ich kam, machten D. und ich erst einmal zusammen Hausaufgaben oder übten Mathematik, der Fernseher lief dabei. Später gingen wir hinaus an die frische Luft, wir fuhren Inline-Skates zusammen, manchmal aßen wir ein Eis, oder wir setzten uns ins Gras und lasen »Karlsson vom Dach«. Ich hatte ihr das Buch geschenkt, weil es bis heute eines meiner Lieblingsbücher ist. Sie wünschte sich später zum Geburtstag von ihrer Familie die Fortsetzung und neue Inline-Skates, sie bekam Inline-Skates und ein Nintendo DS geschenkt. Wenn ich kam, nickte mir ihre Mutter höflich zu und verschwand in der Küche, sie stellte uns immer Tee und Butterringe hin, ein Spritzgebäck, was mich an meine erste Zeit im Asylbewerberwohnheim erinnerte: Ich weiß nicht warum, aber dort, im Wohnheim, hatten viele der Bewohner Butterringe gegessen, seitdem hatte ich sie nie wieder gesehen und vergessen gehabt. Ich aß sie gern. D. schien sie nicht zu mögen, und manchmal stand sie, während wir lernten, auf und holte sich aus der Küche – in Gedanken noch in eine Mathematikaufgabe vertieft – trockene Fertig-Asia-Nudeln zum Knabbern, die sie so
aß, ungekocht. Ich wollte etwas sagen und sagte nichts, weil ich mich daran erinnerte, dass ich nicht dazu da war, D. meine oder die deutschen Knabber- und sonstigen Bräuche beizubringen, sondern sie kennenzulernen, mit ihr zusammen zu sein. Ich sagte etwas zu ihrer Mutter über die Tatsache, dass der Fernseher lief. Immer lief. Er lief, wenn ich kam, auch wenn niemand im Wohnzimmer saß. Er lief, wenn D. und ich das Haus verließen, lief auch, wenn ich sie später wieder ablieferte. Vor allem lief er aber, wenn wir lernten. Es war das einzige Mal, dass ihre Mutter und ich aneinandergerieten, obwohl wir uns kaum verständigen konnten, ich schaltete ihn mit einer riesigen Fernbedienung aus und sie drei Minuten später wieder an.
D. kam also aus so einer »bildungsfernen Familie mit Migrationshintergrund«, von denen man immer wieder hört und liest, sie lebte in einem Stadtviertel, in das man sich besser – so hört man zumindest – nicht begibt, sie ging in diesem Stadtviertel auch zur Schule, und sie bekam Computerspiele statt Bücher geschenkt. Sie war eines der begabtesten Kinder, das ich je kennengelernt habe. Sie lernte gern. Durch Teilaspekte, die sie nicht sofort verstand, biss sie sich mit einer Ausdauer durch, die für meine Arbeit abzuschauen ich mir jedes Mal schwor. Wenn ich sie fragte, was sie spielen wollte, antwortete sie häufig »Schule«. Wir stellten einander Mathematikaufgaben und schrieben Diktate, nachdem wir mit den Hausaufgaben fertig waren. Und ihre bildungsferne Familie? Sie war nicht in der Lage, diesem Kind Angebote zu machen, ihm vorzulesen, die Mutter auch in ihrer Muttersprache Analphabetin, war nicht imstande, ein deutsches Buch zu kaufen. Aber sie hatte das Mädchen für das Mentoring-Programm angemeldet, brachte sie außerdem einmal die Woche zur Vorlesestunde der Stadtteilbücherei. Entgegen ihrer eigenen Erziehung und
Herkunft ließ sie so viel Bildung für ihre Tochter zu, wie sie selbst niemals bekommen hatte. Das ist mehr, als man von manch deutscher bildungsferner Familie behaupten kann.
(Und wer jetzt sagt: Eine Ausnahme!, den frage ich: Wie kommt es
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