'Sie können aber gut Deutsch'
dann möglicherweise auch solche Diskussionen unnötig –, indem man die anderen einfach kennenlernt. Die Menschen kennenlernt, die tagein, tagaus neben einem sitzen und denselben langweiligen Schulalltag teilen.
Dies gilt selbstverständlich nicht nur, vielleicht sogar erst in letzter Konsequenz, für Schüler, Kinder, Jugendliche. Dies gilt in erster Linie für uns – uns alle.
Ich glaube, dass Deutschland ärmer wäre ohne D. Ich glaube, dass es für die Zukunft dieses Landes, auch wenn das etwas großspurig klingen mag, nicht gut wäre, wenn das Potenzial, auch die Erfahrungen, die dieses Mädchen mitbringt, nicht genutzt würden. Ich glaube, dass Deutschland Schaden nehmen würde, wenn es nicht bald D. und all die anderen schätzen lernt.
Was würde passieren, wenn all diejenigen, die man als »mit Migrationshintergrund« beschreibt, für einen Tag einmal
verschwänden? Wenn es einen Feiertag für Migranten gäbe, an dem sie nicht arbeiten müssten, sogar dazu angehalten würden, ihr Haus nicht zu verlassen, sich in ihren vier Wänden auszuruhen. Vielleicht sollte man einen solchen Tag einführen, damit wir realisieren, was ein Leben ohne Zuwanderer in Deutschland bedeuten würde: eines, dass ohne sie nicht mehr funktionierte. Und dabei ginge es nicht darum, dass man sein Gemüse nicht mehr beim Türken seines Vertrauens kaufen könnte; auch nicht darum, dass es schwierig würde, einen Taxifahrer zu finden, der sich in einer Stadt wie Berlin auch ohne Navigationsgeräte zurechtfände. Nein, es ginge darum, dass Deutschland regelrecht lahmgelegt würde: Operationstermine würden platzen, weil in Krankenhäusern Ärzte und Krankenpfleger fehlen. Der Luftverkehr würde aufgrund mangelnden Personals zusammenbrechen. Dem Morgenmagazin der öffentlich-rechtlichen Sender fehlten Moderatoren, den großen Unternehmen, auf deren Produktion wir jeden Tag bauen, Fach- und Führungskräfte. Die Restaurants in ihrer Mehrheit hätten geschlossen, ebenso die eine oder andere Kneipe, vielleicht der Bäcker, bei dem man sich seinen morgendlichen Kaffee mit Croissant holt, vielleicht der Friseur, den man unbedingt noch vor einem wichtigen Termin aufsuchen wollte. Es wäre dunkel und traurig, nicht nur im übertragenen Sinne, weil viele Gebäude, Läden, Geschäfte, Einrichtungen, deren Fenster wir in beleuchtetem Zustand zu sehen gewohnt sind, auf deren Betrieb wir uns verlassen, dunkel bleiben würden. So ist sie, die Realität. Sie wahrzunehmen, anzunehmen, auch abseits der angeblichen Wirklichkeit, die uns gerne von den Medien vermittelt wird, die zwar auch irgendwo, irgendwie in Deutschland existiert, aber eben nur auch, ist ein wichtiger Schritt. Wie sagt der Volksmund? Einsicht ist der erste Weg zur Besserung. Die Realität ist nämlich auch die: Dass sich
die Zahl der Menschen mit Migrationshintergrund nicht verringern wird, im Gegenteil: Schon jetzt hat ein Drittel der Kinder Migrationshintergrund (im Vergleich: bei den Erwachsenen ist das Verhältnis 1:5). Mit anderen Worten: Sie werden das Land in Zukunft noch mehr prägen, als sie es jetzt schon tun.
Ich hatte das Glück, ein paar dieser jungen Menschen mit Migrationshintergrund kennenzulernen. Sie hatten sich für ein Schülerstipendium der Robert-Bosch-Stiftung beworben, weil sie sich weiterbilden, weil sie weiterkommen und auch verdiente Anerkennung für ihre Leistungen haben wollten. Ich saß in der Jury und fühlte mich wie ein fauler Sack, nicht nur, wenn ich an meine Schulzeit dachte, die sich nicht zuletzt aus geschwänzten Schulstunden und Partys an Wochenenden zusammensetzte, sondern auch an meinen Alltag jetzt. Da war zum Beispiel dieses Mädchen, dessen Eltern aus Vietnam stammten, die zusammen mit drei Geschwistern bei ihrem Vater lebte, nachdem ihre Mutter nach Saigon zurückgekehrt war. Obwohl in Deutschland geboren, war ihre erste Sprache Vietnamesisch gewesen, ihr Vater war arbeitslos und das Mädchen gerade dabei, das Abitur mit einem Durchschnitt von 1,0 abzulegen. Sie hatte in ihrem Bewerbungsschreiben Jean-Paul Sartre zitiert, am Anfang, in der Mitte und am Schluss, roter Faden, Deutsch-Unterricht, dachte ich, und dann dachte ich, mich an meine eigene Schulzeit erinnernd: Streberin! Aber dann warf sie auf meine vorbereiteten Fragen mit weiteren, immer passenden Zitaten von Friedrich Nietzsche, Albert Camus, Sigmund Freud, Martin Heidegger und Max Weber nur so um sich, dass ich mir nicht mehr sicher war, wer von uns beiden belesener war, und
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