"Sie koennen aber gut Deutsch!"
passte nicht in das bunte Gewimmel. Ich trug zwar meine nagelneue Jeans und meinen maÃgeschneiderten hellgrünen Parka, beides aus der Sowjetunion importiert, aber ich war nicht bunt genug. Die Jeans hatte ich eine Woche vor unserer Ausreise aus Russland von meiner GroÃmutter geschenkt bekommen, sie hatte lange dafür gespart. Den Parka, ein damals neurussisches Modewort aus der Burda -Zeitschrift, die Anfang der Neunziger in der Sowjetunion unter der Hand vertrieben wurde, hatten meine Eltern für mich nach Maà anfertigen lassen, weil die Auslagen in den russischen Geschäften leer waren und das Kind etwas zum Anziehen brauchte, etwas für Deutschland. Ich drückte mich am Zaun herum, knabberte an meinem Pausenbrot (meine Mutter gab es mir in einer Plastiktüte und nicht in einer bunten Brotdose mit) und übte meine deutschen Sätze. Die Sätze bastelte ich abends mithilfe eines Wörterbuchs und meines Bruders, der die Sprache schon ein wenig beherrschte, nicht immer grammatikalisch korrekt zusammen:
»Ich spreche Deutsch, aber nicht sehr gut.«
»Ich möchte mit deutschen Kindern Freundschaft halten.«
Manche schnappte ich auch auf, ohne ihre Bedeutung zu verstehen. Mein Lieblingswort war »meinetwegen«, ich wusste nicht, ob es »Ja« oder »Nein« bedeutete, aber ich mochte den Klang und beantwortete fast jede Frage damit.
Im Klassenzimmer war auch alles bunt. Die Schulhefte hatten bunte Umschläge, und nachdem ich herausgefunden hatte, dass dahinter ein System steckte, wurde mein Leben einfacher. Mathematik erkannte ich an den Zahlen, Musik an den Noten, aber die anderen Fächer hielt ich an den Farben auseinander. Gelb war montags und mittwochs, Grün dienstags, mittwochs, donnerstags und hatte wohl etwas mit Geographie zu tun, es kamen immer wieder Städtenamen vor. Wenn wir das Klassenzimmer wechselten, lief ich wie ein willenloses Schaf der Herde hinterher; für den Religionsunterricht teilte sich die Klasse in Evangelisch und Katholisch auf, ich, die Jüdin, machte mal bei den einen, mal bei den anderen mit. Ich war elf Jahre alt und vor drei Wochen in Deutschland angekommen.
»Sie äuÃert sich mündlich nicht und antwortet nur nach ausdrücklicher Aufforderung«, würde zwei Monate später in meinem Schulzeugnis stehen, aber die Lehrerin, die das tippte (und sich beim Vor- und Nachnamen meines Vaters jeweils vertippte), nahm mich kaum wahr. Die anderen Kinder fanden mich sonderbar, sie hatten anfangs versucht, sich mit mir zu unterhalten, und es aufgegeben, nachdem ich mehrmals »Was, was?« und »Ich verstehe nicht« geantwortet hatte. Einmal hatte mich ein Mädchen gefragt, ob ich Geschwister hätte, ich sagte: »Ja, ich habe Bruder« und ärgerte mich den ganzen Nachmittag darüber, dass ich das Wörtchen »einen« vergessen hatte. Ich machte den Deutschfehler dafür verantwortlich, dass sie mich nie wieder ansprach. Die Kinder fanden mich sonderbar, schlimmer aber waren die Lehrer, die mich der Einfachheit halber ignorierten. Sie stellten Fragen an die gesamte Klasse, verteilten an die anderen Kinder Arbeitsblätter, lieÃen sie vorlesen, während ich zwischen jenen saÃ, an die sich dieser Unterricht richtete, und mich nach Russland zurückwünschte.
Sechs Sommerferienwochen, 42 auswendig gelernte Sätze (ein Satz pro Tag) und einige deutsche, mit Hilfe des Wörterbuchs entzifferte Kinderbücher später stand ich wieder auf dem bunten Schulhof, um die vierte Klasse zu wiederholen. Ich hatte mich an Deutschlands Farbenprächtigkeit gewöhnt. Ich trug nun auch eine Leggings. Ich hatte sogar eine rote Brotdose im Schulranzen. Und panische Angst. Ich drückte mich am Zaun herum, ich zählte die Minuten bis zum Schulende, so, wie ich die Tage der Sommerferien gezählt hatte, in der Hoffnung, sie würden niemals zu Ende gehen. Der Minutenzeiger auf meiner neuen, aufklappbaren Super-Mario-Uhr bewegte sich wie im Schneckentempo.
Ich war in eine neue Klasse gekommen und hatte einen neuen Klassenlehrer. Der neue Klassenlehrer sprach ausschlieÃlich Schwäbisch. Wenn ich mich konzentrierte, verstand ich ungefähr die Hälfte von dem, was er sagte.
In der ersten Pause kam er an meinen Tisch. Er sprach mit mir. Er fragte. Einfache Dinge, die ich verstand. Woher ich komme. Ob ich Geschwister habe. (»Ich habe einen Bruder«, antwortete ich.) Was ich gerne
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