Sie nennen es Leben
Internet aus. » Die magische Dauerpräsenz der Freunde und Altersgenossen macht den Ort zu einer Bühne, auf der man tunlichst seine Gelegenheit nicht verpatzt. «
Tatsächlich haben Teenager schon lange vor der Erfindung des Internet mit den Grenzen von Privat und Ãffentlich gespielt. Das bekannteste Beispiel ist wahrscheinlich Marie Bashkirtseff. Die Tochter russischer Emigranten kam als Kind nach Paris. Sie hatte verschiedene künstlerische Talente, unter anderem malte sie erfolgreich, aber auch ihr Schreibtalent war groÃ, wie ein posthum veröffentlichter Briefwechsel mit Guy de Maupassant beweist. Maries gröÃtes und öffentlichkeitswirksamstes Projekt waren aber ihre Tagebücher. 16 Bände umfasste schlieÃlich die Ausgabe, die ihre Eltern drei Jahre nach Maries Tod herausbrachten. Sie starb einen Monat vor ihrem 26 .Geburtstag an Tuberkulose. Was sie in ihrem kurzen Leben erlebte, hielt Marie minutiös in ihren Tagebüchern festâ immer mit der Absicht, dass diese später von einem breiten Publikum gelesen werden sollten. » Ich glaube, wenn man das so sagen kann, dass es bislang keine Aufnahme des Lebens einer Frau gibt, von allen ihren Gedanken. Ja, allen, allen « , schreibt sie.
In ihren Tagebüchern hält Marie alle ihre Gedanken festâ die tiefsinnigen, die albernen, die intellektuellen, die banalen. Am 30 .Januar langweilt sie sich fürchterlich: » Fast nichts getan. Kleider anprobiert « . Am 8 .Dezember zerbricht sie sich hingegen den Kopf über ihr Image: » Ich verspotte jedermann und mich selbst, aber der Gedanke, dass jemand sich auch über mich lustig machen könnte!!â¦. wenn auch nur ganz leise.â¦schrecklich!! schrecklich!! « Gleichzeitig macht sie sich abstrakte Gedanken über die Liebe. » Was für den Augenblick Iâ¦heiÃt, dass ist jener âºErâ¹ der Frauen, der âºErâ¹, auf den man wartet. Er hat Pâ¦geheiÃen, jetzt heiÃt er Jâ¦, später wird er X. oder Y. heiÃen. Es ist bloà eine Formel, um tausend Hoffnungen kurz zusammenzufassen. «
Die Tagebücher werden nach ihrem Erscheinen zu Kultbüchern und beeinflussen junge Autorinnen in ganz Europa. Auch heute noch gelten die Notizen als einzigartiger Einblick in den Alltag einer jungen Frau, als Zeugnis aus einer Zeit, die sich noch nicht für ihre jungen Menschen interessierte. Mit der Jahrhundertwende änderte sich jedoch, wie im ersten Kapitel beschrieben, die gesellschaftliche Stellung von Jugendlichen. Was sie bewegte, interessierte nun die gesamte Gesellschaft. Junge Autoren sahen ihre Zeit gekommen, und bald schoss die Zahl der autobiografischen Werke derartig in die Höhe, dass der britische Schriftsteller Evelyn Waugh 1920 halb erstaunt, halb indigniert befand: » Jeder Junge schreibt über seine Schule, jedes Kind über sein Puppenhaus, jedes Baby über sein Fläschchen. Die Jüngsten haben fast ein Monopol auf Bücher, Presse und Bildergalerien erlangt. Jugend erlangt ihre Geltung. «
Kein Interesse am Web 2.0
Dass Jugendliche ihre gesellschaftliche Rolle erst noch finden müssen und dabei des Ãfteren die Grenzen zwischen Ãffentlichem und Privatem verschieben, ist also nicht so neu, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Trotzdem sorgt der User Generated Content, den Jugendliche in Form von Fotos, Blogs und Videos schaffen, für reichlich Wirbel. » Angeber, Ruhmsüchtige, pornografische kleine Spinner, die ihre Telefonnummern, ihre dummen Gedichte undâ Herr im Himmel!â sogar ihre anzüglichen Fotos online stellen « , hat das » New York Magazine « ironisch die Gefühle von Erwachsenen gegenüber dem Web 2 . 0 zusammengefasst. Autorin Emily Nussbaum findet in der Titelgeschichte einen einprägsamen Vergleich für den Unterschied zwischen jungen Usern und deren Eltern: Man begegne sich mit einem Unverständnis, wie es zuletzt beim Durchbruch von RockânâRoll geherrscht habe.
Und tatsächlich: Die Teenager, die Nussbaum trifft, scheinen in einer sehr fremden Welt zu leben. Ein Mädchen bloggt über das Ausbleiben ihrer Menstruation ( » Dabei wurde ich seit Monaten nicht mehr abgeschleppt « ), ein anderes hält die Welt auf dem Laufenden, was sie jeden Tag anzieht; ein Student erzählt online, wie er auf ein windiges Immobiliengeschäft hereinfiel, ein anderer hat das Sexvideo einer Bekannten ins
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