Sie nennen es Leben
keinen Tabubruch mehr, im Gegenteil: Er tut das sozial Erwünschte und darf von seinem Gegenüber im Anschluss dasselbe erwarten. Wenn der dem auch nachkommt, ist die Beziehung ausgeglichen, und der nächste Tausch steht an.
Es habe sich der Glaube breitgemacht, » Gemeinschaft sei das Produkt gegenseitiger SelbstentblöÃung « , schreibt Sennett. Er hat diese Entwicklung eindringlich kritisiert, da sie seiner Meinung nach sowohl zur Ãberhöhung des Intimen als auch zur Entwertung des Politischen führen würde. In der Folge würden zum Beispiel Politiker nicht mehr danach beurteilt, was für Entscheidungen sie treffen, sondern ob sie sympathische Menschen sind, die keine Angst davor haben, auch mal ihre privaten Seiten zu zeigen. Intimitätâ oder zumindest das, was die Mehrheit dafür hältâ wird so zum MaÃstab allen Handelns. Wer nur offen und emotional genug ist, dem lässt man alles durchgehen.
Wie zutreffend Sennetts Analyse ist, kann man am Erfolg von Reality-TV oder Dokusoaps erkennen. Hier ist EntblöÃungâ körperliche wie seelischeâ tatsächlich alles. Auch unser Verständnis davon, was einen Star ausmacht, hat sich durch den Siegeszug der Intimität verändert. Heute fasziniert nicht mehr der unnahbare Held, sondern der unperfekte Promi. Einer, dessen Ausrutscher und Schönheitsfehler uns an unsere eigenen Unzulänglichkeiten erinnern.
Ganz ähnlich verläuft auch die Debatte im Netz über Datenschutz. Entgrenzte Intimität wird dort nicht nur gelebt, sondern auch gefordert. Einer ihrer lautesten, aber auch unterhaltsamsten Befürworter ist Jeff Jarvis. Als der US-amerikanische Internetguru ( » What Would Google Do? « ) im Sommer 2009 an Prostatakrebs erkrankte, wollte er die Diagnose nach eigenen Angaben am liebsten sofort twittern. Der 56 -Jährige zwang sich dann doch zur Zurückhaltung, jedenfalls vorübergehend: Sein Sohn war noch in einem Feriencamp und sollte es doch lieber von ihm persönlich hören. Als das erledigt war, setzte sich Jarvis an seinen Computer und schrieb den ersten von zahllosen Einträgen über die Krankheit auf seinem Blog buzzmachine.com: » Ich habe Krebs, Prostatakrebs. Als der Doktor mir die Diagnose mitteilte, sagte er mir, wenn du schon Krebs bekommst, ist dies der beste Krebs. Ich fühlte mich sofort, als hätte ich ein Upgrade bei Air Krebs bekommen. «
Darüber hinaus bloggte Jarvis noch, in welchem Stadium der Krebs war sowie welche Behandlungsmethode und Ãrzte er sich ausgesucht hatte. Gibt es nichts, was Jarvis zu privat wäre, um es im Internet publik zu machen? » Wenn es sein muss, blogge ich auch über meinen Penis « , hat der Medienexperte in einem Interview mit » Time Magazine « gesagt. » Aber irgendwie wäre es mir unangenehm zu sagen, wie viel Geld ich verdiene. Da bin ich dann doch zu amerikanisch. «
Für sehr deutsch hält es Jarvis hingegen, wenn man nackt in die gemischte Sauna geht, im Internet aber auf Datenschutz pocht. Seine zentrale Ãberzeugung ist: alles, was wir online über unsere Vorlieben, Eigenschaften und Einstellungen verraten, bringt uns letztlich Vorteile. Unternehmen können ihre Produkte und Dienstleitungen besser unseren Wünschen anpassen; Werber können uns gezielter über diese Angebote informieren; und auch die persönliche Kommunikation wird gehaltvoller, weil sich echte Menschen einander anvertrauenâ und so die besten Tipps zur Behandlung von Prostatakrebs geben. » Privacy wingnuts « (Privatsphären-Radikalinskis) nennt Jarvis nur halb spaÃhaft die, die anderer Meinung sind als er.
Demonstrativ nüchterner gibt sich dagegen Facebook-Gründer Mark Zuckerberg. Er stellte 2008 eine berühmte Faustregel auf, die auch das Zuckerberg-Gesetz genannt wird. Sie lautet: Jedes Jahr werden Menschen doppelt so viele Informationen miteinander teilen wie noch im Jahr zuvor. Diese Regel ist natürlich nicht als mathematische Formel gedacht, mit der sich präzise die Zukunft von Social Networks berechnen lässt. Sie bringt vor allem zum Ausdruck, was viele in den Anfangstagen des Web 2 . 0 dachten: dass Privatsphäre ein Konzept der Vergangenheit sei, das im 21 .Jahrhundert nicht mehr viel tauge. Wer einmal damit angefangen habe, sich im Netz darzustellen, würde nicht mehr aufhören können.
Manche Netzdeuter haben diesen vermeintlichen Dammbruch
Weitere Kostenlose Bücher