Sie sehen aber gar nicht gut aus!
Bett des Jungen war durcheinander. Blaue Bettwäsche mit einem riesigen Comictiger darauf, der ins Zimmer grinste. Daneben die noch brennende Nachttischlampe. Durch die transparente, halb geöffnete Gardine konnte man auf die Lichtung eines Waldes sehen. Frische Luft strömte durch das gekippte Fenster in das Zimmer.
Der Mann führte mich in die Küche und blieb mittendrin stehen. Auf dem Küchentisch lag ein zerknittertes Blatt Papier. Eine Kinderhand hatte etwas mit blauer Tinte in krakeliger Schrift daraufgeschrieben.
»Sein Testament. Er hat ein Testament gemacht. Können Sie sich das vorstellen? Ein Testament!«
Ich las das Wort am Anfang des Briefes und musste schlucken. Tränen rannen über das Gesicht des Vaters. Der Junge vermachte seinem Bruder seine Lego-Bausteine, den Plüschbären und die Bücher. Ein Mädchen sollte sein Sparbuch bekommen. Er hatte es während des letzten Sommers im Ferienlager kennengelernt und sich auf Anhieb mit ihm verstanden. Der Vater packte mich an der Jacke.
»Bitte ... was habe ich falsch gemacht? Können Sie mir das sagen? Ich kann es nämlich nicht verstehen«, meinte der Vater tonlos und drehte sich um.
Seine Fingernägel gruben sich in die Handballen, dass es blutete.
»Ich kann nicht verstehen, warum sich mein Junge umgebracht hat.«
Ob er etwas falsch gemacht hatte, konnte ich ihm natürlich nicht beantworten. Einen Tag vor dem Unglück hatte es zu Hause Ärger gegeben, erzählte er mir. Der Junge hatte seine Hausaufgaben machen und anschließend beim Tischdecken helfen sollen. Doch er hatte gebockt. Als ihm der Vater wie so oft eine schallende Ohrfeige verabreicht hatte, war der Junge trotzdem ruhig geblieben. »Mutter hatte schon recht, dass sie letztes Jahr weggezogen ist«, flüsterte er und fing sich dafür noch eine Ohrfeige ein – die letzte seines Lebens. In seinem Brief schrieb der Junge, dass sein Vater dies nun nie wieder würde machen können. Dass er das Mädchen lieb habe und es deswegen sein Sparbuch bekommen sollte. Dass er auch seine Mutter lieben würde. Und dass er es schade finde, dass sie weggezogen sei und seinen Bruder mitgenommen habe. Damit sein Bruder ihn nicht vergessen würde, bekomme dieser seine Spielsachen. »Seid nicht traurig«, stand ganz am Ende des Briefes. Ich musste tief durchatmen.
Einige Tage zuvor war Lennys jüngster Sohn ebenfalls elf Jahre alt geworden und hatte eine großartige Party mit allem Drum und Dran gefeiert. Sein Sohn redete ständig nur von Computern, Fernsehsendungen und Pokémon-Figuren. Und nicht davon, sich das Leben zu nehmen. Lenny stand vor dem Rettungswagen und blickte in Richtung der Waldlichtung. Die orange Jacke mit dem silbernen Leuchtstreifen reflektierte das Licht, das vom Haus herüberfiel. Den Zigarillorauch konnte man schon von Weitem riechen.
»Starten wir?« Er erschrak, als ich plötzlich neben ihm auftauchte. »Die Polizisten sagen, die Großeltern wohnen ein paar Häuser weiter. Wir sollen denen die Todesnachricht überbringen.« Auch das noch.
Die Notärztin saß noch immer im Einsatzfahrzeug an der Einsatzstelle und sah zum Fenster hinaus. Auf ihrem Schoß lagen das Einsatzprotokoll und der Leichenschein, den sie noch ausfüllen musste.
»Ich kann nicht. Ich kann es ihnen nicht sagen«, schluchzte sie und schüttelte den Kopf.
»Tut mir unendlich leid. Dein dritter Dienst und dann so etwas.«
»Und jetzt?«
»Ich fahre mit Lenny rüber. Schreib in Ruhe zu Ende, und komm ein bisschen runter. Wenn was ist, rufen wir dich auf dem Handy an. Okay?«
»Danke fürs Auffangen.« Sie vergrub ihren Blick in den Leichenschein.
Während Lenny und ich vor der Haustür der Großeltern standen und die Türglocke betätigten, durchzuckten mich Gedanken an das, was jetzt folgen könnte. Natürlich waren wir erfahren im Umgang mit Menschen, die ein psychisches Trauma erlitten hatten. Aber dieser Einsatz war von ganz anderer Qualität und das Folgende nicht absehbar.
Nach einer Weile öffnete sich die Haustür, die zusätzlich mit einer Kette verriegelt war. Ein weißhaariger alter Mann sah heraus.
»Sanitäter? Ich habe Sie nicht bestellt.«
»Dürfen wir bitte hereinkommen?«
»Nein. Ich möchte auch nichts spenden«, antwortete der Mann, dann fiel die Tür ins Schloss.
Lenny klingelte erneut. Keine Reaktion. Ich klopfte gegen die Tür.
»Bitte öffnen Sie die Tür. Wir wollen kein Geld.«
»Was dann?«
»Wir müssen Ihnen leider eine schreckliche Nachricht überbringen.«
Es vergingen
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