Sie sehen aber gar nicht gut aus!
einige Sekunden, in denen ich Geflüster und Schritte im Haus hören konnte. Dann war es wieder still. Die Tür öffnete sich langsam, während sich das Böse über dieses Haus legte. Diesmal stand ein Ehepaar in der Tür und bat uns hinein.
»Sind Sie Herr und Frau Müller und verwandt mit der Familie Müller aus der Bergstraße?«
»Ja, sind wir.«
Mir war kalt. Kurzes Schweigen. Einatmen. Der Blick in die Augen der beiden Alten. Und die Angst vor deren Reaktion.
»Ihr Enkel ist tot.«
Sie starrten mich entsetzt an. Vier aneinandergereihte Worte, die das Leben des Ehepaares für immer verändern sollten. Die Fassade bröckelte und stürzte einen kurzen Moment später ein. Herr Müller hielt seine Frau, die vor ihm kniete, ihn umklammerte und nicht mehr in der Lage war, die eigene Mimik zu kontrollieren. Das Schreien von Frau Müller durchdrang mich wie das Fallbeil einer Guillotine den Hals ihres Opfers.
Wir übergaben das Ehepaar zusammen mit dem Vater des Jungen in die Obhut des nachgeforderten Kriseninterventionsteams. Ich fühlte mich wie ein Todesengel, der in einem blutroten Mantel und mit großen schwarzen Flügeln Angst und Schrecken verbreitet hatte, anstatt Leid zu lindern und Menschen zu helfen. Erhebliche Belastungsmomente kumulierten hier auf tragische Weise. Da waren die Notärztin, die danach nie wieder als solche gearbeitet hat, der Vater, der die Schuld nur bei sich suchte, und die Großeltern, die nach Überbringung der Nachricht selbst zu Patienten wurden. Genau wie die Mutter, die der Vater unmittelbar nach Auffinden seines Jungen angerufen hatte.
Und dann war da noch der Junge selbst. Lenny hatte bereits ein mieses Gefühl gehabt, als wir noch auf der Hinfahrt waren. Nachvollziehbar, aber ich hatte uns beruhigt. »Was soll schon sein?«, hatte ich gesagt. In den meisten Fällen war die Einsatzmeldung »nicht ansprechbares Kind« glücklicherweise falsch. Und wenn wir wiederbeleben mussten, dann machten wir das eben so, wie wir es gelernt hatten. Und wir waren gut. Wiederbelebungssituationen an Kindern sind im Rettungsdienst glücklicherweise extrem selten. Medikamente in kindgerechter Dosierung? Da sehen wir in der Tabelle nach, die auf der Innenseite des Kindernotfallkoffers klebt. Und eine Intubation? Wird schon klappen.
Aber es lief diesmal ganz anders als erwartet. Dieser Einsatz begann erst, als der Patient bereits tot war. Wir waren auf so etwas einfach nicht genügend vorbereitet, um professionell reagieren zu können. Wir reagierten nur. Immerhin.
Das Kind war gestorben und die Situation konnte nicht mehr rückgängig gemacht werden. Ich war mir zwar nicht sicher, dass es der richtige Zeitpunkt war, um einen Versuch zu starten, die Stimmung etwas zu entspannen, und wie ein derartiger Scherz in diesem Moment ankommen würde, aber ich versuchte es trotzdem. Irgendwie musste ich uns ja auf andere Gedanken bringen. Kurz bevor Lenny einsteigen konnte, eilte ich zum RTW und schüttelte seine fast volle Flasche Cola wie einen Cocktailshaker. Ich wusste, dass er den RTW anlassen, ein paar Meter zurücklegen und erst einmal einige erfrischende Schlucke aus seiner Flasche nehmen würde. Und ich wusste auch, wie viel Kohlensäure sich in einer nahezu frischen Pulle Cola befindet ...
Todgeweiht
Ausgerechnet an diesem Tag lieferten diese Idioten die Obstpaletten stapelweise an. Ludwig, der Besitzer eines kleinen Ladens für Früchte und Spezialitäten aus dem Morgenland, hing am Telefon und rief nach seinem Schwiegersohn Paul.
»Hier ist Ludwig. Kannst du mir helfen? Die Lieferanten meinen, sie müssten mich heute mit Ware überschütten.« Irgendetwas war bei der Bestellung wohl schiefgelaufen. Keine drei Minuten später saß Paul am Lenkrad seines schneeweißen Lieferwagens und startete den Dieselmotor. Die Ware sollte auch an Ludwigs zweites Geschäft verteilt werden.
Ludwig passte das alles gar nicht. Denn an diesem Tag hatte er den 19. Hochzeitstag mit seiner Frau Lena, und aus diesem Anlass wollte er sie fein zum Mittagessen ausführen. 19 Rosen hatte er besorgt und einen Tisch beim Edel-Italiener um die Ecke bestellt. Mittags war eine gute Gelegenheit zum Feiern, denn da saßen die Kinder noch in der Schule.
Trotz der Unannehmlichkeiten war die Laune der beiden Männer gut und passte zum wolkenfreien Sommertag. Der Lieferwagen war bis unter das Dach mit Obst und Gemüse beladen. How many roads – Bob Dylan näselte im Radio. Keiner der beiden Männer dachte in diesem Moment
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