Sie sehen aber gar nicht gut aus!
halbtotgetrampelt werde.
Mir ist natürlich klar, dass sich meine komplette Nachbarschaft nicht ausschließlich nach mir und meinem Dienstplan richten kann. Da es verboten und unmoralisch ist, Menschen zu verprügeln und Hunde einfach zu töten, werde ich mich mit den Gegebenheiten arrangieren und Abhilfe schaffen müssen. Der Umzug in ein Haus mit fundamental dickeren Wänden und Dreifachverglasung ist bereits beschlossene Sache.
Kurzschluss
Das Notarztteam und wir verließen das Haus bepackt mit Equipment, das wir nicht benötigt hatten. Es nieselte in die Landschaft, deren Hügel am Horizont die Sonne vereinzelt zu berühren schienen.
Plötzlich hielt ein BMW mit getönten Scheiben vor dem bäuerlichen Gebäude, das einfachen Leuten gehörte. Kriminalpolizei. Der Motor verstummte, zwei Männer in Mänteln stiegen aus dem Wagen. Die beiden erinnerten mich an Derrick und Harry Klein. Derrick hatte einen Aktenkoffer unter dem Arm, Klein nur eine Tasche. »Die Meldung unserer Einsatzzentrale hat sich nicht gut angehört. Was ist passiert?«, fragte Derrick und steuerte gleichzeitig auf die Haustür zu. Meine Gesichtszüge waren eingefroren.
»Er ist tot«, war meine knappe Antwort.
Mein Blick streifte einen Kirchturm, glitt langsam am Wald entlang und tauchte in das Farbspektrum des Regenbogens am anderen Ende des Landkreises ein. Klein hatte seinen Dienstausweis bereits in der Hand und klingelte an der Eingangstür. Jemand öffnete.
Das Schreien eines Mannes gellte durch den Ort. Es durchdrang mich wie ein unendlich scharfes Messer, das durch mein Rückenmark fuhr. Ich stockte und drehte mich um. »Geh schon mal vor, ich muss zurück ins Haus.« Lenny nickte und brachte unsere Ausrüstung in den Rettungswagen.
Wir befanden uns mitten in einem Ort, der gerade einmal 231 Bewohner zählte. Das Warum konnte ich mir nicht erklären. Als wir vorhin angekommen waren, hatte uns der Mann empfangen, der auch den Notruf abgesetzt hatte. Er flehte uns an, noch etwas zu tun, und hoffte, dass wir es schaffen würden und alles gar nicht so schlimm wäre. Der Mann war verzweifelt und dieser Moment so unfassbar. Aber wir konnten nichts mehr ausrichten, denn der Junge war bereits tot. Die Leichenstarre hatte seine Arm- und Kiefermuskulatur in Zement gegossen. Wir merkten es erst, als wir eine Wiederbelebung versuchen und ihn auf den Rücken drehen wollten. Das linke Auge war rot unterlaufen. Im rechten Auge konnte man nur kleine rote Pünktchen sehen. Einige Adern waren darin geplatzt. Um den zarten Hals lag ein abgeschnittener dünner Gürtel, der eine tiefe Furche mit einer dunkelblauroten Randzeichnung hineingeschnitten hatte. Sie zeichnete sich deutlich von der milchigen Gesichtsfarbe ab.
Seinen elften Geburtstag hatte der Junge erst Tage zuvor gefeiert und sich irgendwann in dieser Nacht am Bücherregal hinter der Tür zu seinem Kinderzimmer erhängt.
»Hat sich erhängt«, konstatierte die Notärztin. Sie klang verzweifelt und nestelte an ihrem weißen Kittel herum. Mit Tränen in den Augen schien auch sie mit ihrem Latein am Ende zu sein. Die Bügel ihres schwarzen Stethoskops ragten aus ihrer Kitteltasche heraus. Nur mit Mühe konnte ich sie vom aussichtslosen Versuch einer Wiederbelebung abhalten.
»Wir könnten es einfach versuchen«, beharrte sie. Aber ich ließ sie nicht. Die Ärztin war erst Anfang 30. Sie hatte zwar die medizinische Verantwortung, doch woher sollte sie die Erfahrung haben, um in solchen Situationen sicher agieren zu können?
Morgens hatte sie sich noch auf den Dienst gefreut. Mit roten Bäckchen und einer etwas zu großen Einsatzjacke hatte sie ihren Fahrer zu ihrem dritten eigenverantwortlichen Notarztdienst mit den Worten begrüßt: »Lassen wir es krachen!« Mein Kollege hatte mir das später erzählt. Er hatte mir auch erzählt, wie sehr ihr dieser Satz im Nachhinein zu schaffen machte. Nach diesem Einsatz hat sie nie wieder ein Rettungsfahrzeug betreten.
Zurück im Haus, konnte ich durch die geöffnete Holztür in das blau-weiß gestrichene Kinderzimmer sehen, in dem die Spurensicherung am Werk war. Am braunen Bücherregal hing der andere Teil des Gürtels. Er war zurückgeblieben, als der Vater ihn durchgeschnitten und seinen Jungen abgenommen hatte. Einige Bücher standen im Regal, andere lagen daneben. Winnetou, Old Surehand, Die Drei Fragezeichen und einige Comics, die meiner eigenen Fantasie einen gehörigen Schub verabreicht hatten, als ich selbst noch ein Kind gewesen war. Das
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