Sie und Allan
zur Pforte der Wahrheit gefunden hat, doch nur einen, denn du mußt wissen, Allan, daß es deren viele gibt. Doch da Menschen nun einmal Menschen sind und deshalb Wünsche haben müssen, da sie sonst, jeden Strebens beraubt, aller Hoffnungen und Ängste, ja, sogar des Lebens selbst, aussterben würden, was nicht im Sinne des Herrn des Lebens ist, der einen Kindergarten für die Seelen seiner Diener braucht, wo sein Schwert des Guten und des Bösen sie nach seinem Muster zurechtschneiden kann. So kommt es, Allan, daß das, was wir für das Schlechteste halten, oft für uns das Beste ist, und mit diesem Wissen, können wir, wenn wir weise sind, unsere Bitterkeit mildern und unsere Tränen trocknen.«
»Das habe ich mir auch schon oft gedacht«, sagte ich.
»Das bezweifle ich nicht, Allan, denn obwohl es mir gefallen hat, mit dir meinen Scherz zu treiben, weiß ich doch, daß du deinen Anteil an der Weisheit besitzt, den kleinen Anteil, den du während deiner kurzen Jahre erwerben konntest. Ich weiß auch, daß dein Herz gut ist und hohe Ziele hat, und, mein Freund, ja, ich habe in dir wirklich einen Freund gefunden, was ich jetzt nicht zum erstenmal feststelle – und sicherlich auch nicht zum letztenmal. Achte auf meine Worte, Allan! Ich habe nicht ›Liebhaber‹ gesagt, sondern ›Freund,‹ was sehr viel mehr ist. Denn wenn die Leidenschaft mit dem Vergehen des Fleisches erlischt, was kann zurückbleiben, wenn es keine Freundschaft gibt, außer vielleicht ein paar Erinnerungen, die möglicherweise besser vergessen werden wollten? Ja, wie würden sich solche Liebende anderenorts wiedertreffen, die nicht mehr als Liebende gewesen sind? Mit Müdigkeit, möchte ich sagen, wenn sie einander in die leeren Seelen blicken, oder gar mit Widerwillen.
Deshalb werden die Weisen versuchen, sich solche, mit denen das Schicksal sie zusammenführt, zu Freunden zu machen, da sie sie sonst für immer verlieren würden. Und wenn sie noch weiser sind, werden sie, nachdem sie sie zu Freunden gemacht haben, dulden, daß sie sich Geliebte suchen, wo immer sie wollen. Das sind gute Grundsätze, nicht wahr? Doch schwer zu befolgen, oder zumindest nimmst du das vielleicht an.«
Sie schwieg und grübelte eine Weile vor sich hin, das Kinn in die Handfläche gestützt und ins Leere starrend. Ihr Gesicht bot jetzt einen völlig anderen Anblick, als ich bisher an ihr beobachtet hatte. Es besaß nun nicht mehr die Verlockung Aphrodites oder die Majestät Heras, sondern mochte das Athenes sein. So weise, so ruhig, so voller Erfahrung und Voraussicht, daß es mich beinahe ängstigte. Was war die wahre Geschichte dieser Frau, fragte ich mich, was war ihr wirkliches Ich, und was die Summe ihres angesammelten Wissens? Vielleicht war es nur ein Zufall, vielleicht aber konnte sie tatsächlich meine Gedanken lesen. Jedenfalls schienen mir ihre nächsten Worte auf eine gewisse Weise eine Antwort auf diese Spekulationen zu geben.
Sie hob den Blick, sah mich eine Weile nachdenklich an, und sagte dann: »Mein Freund, wir werden uns jetzt trennen und uns während deiner Lebenszeit nicht wiedersehen. Oft wirst du dir Fragen stellen, die mich betreffen, so die, was ich in Wahrheit bin, und vielleicht wird dein Urteil mir am Ende zuschreiben, nur eine schöne Wandernde zu sein, die, von der Welt zurückgewiesen oder wegen ihrer Verbrechen aus ihr vertrieben, den Entschluß faßte, über eine Horde Wilder zu herrschen, ihnen die Rolle eines Orakels vorzugaukeln und den wenigen Reisenden, die sich in diese Abgeschiedenheit verirren mochten, seltsame Geschichten zu erzählen. Vielleicht spiele ich tatsächlich diese Rolle, neben vielen anderen, und wenn ja, so wird dein Urteil über mich nicht ungerechtfertigt sein.
Allan, in den alten Zeiten haben Seefahrer, die die nördlichen Meere befuhren, mir berichtet, daß dort inmitten von Nebeln und Stürmen Berge aus Eis treiben, die von gewaltigen Klippen ins Meer gestoßen wurden, die in ewiger Finsternis liegen und nie von der Sonne beschienen werden. Sie erzählten mir gleichfalls, daß über dem Busen des Ozeans Eis erschiene, das nur wie ein blauer, strahlender Punkt aussähe, unter welchem sich jedoch oft eine ganze gefrorene Insel befände, die für den Betrachter unsichtbar bleibt.
Eine solche Eisinsel bin ich, Allan. Von meinem Ich siehst du nur einen kleinen Gipfel, der im Licht glitzert oder von Sturmwolken gekrönt wird, so wie die Launen des Himmels es wollen. Doch in der Tiefe ruhen die weißen,
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