Sie und Allan
Daß die Schatten, die ich zu sehen glaubte, ihre Existenz allein im Kreis von Ayeshas Vorstellungswelt und Intelligenz hatten. Hier hatte Umslopogaas recht: Wir hatten nicht Tote gesehen, sondern lediglich Bilder und Vorstellungen, die sie aus uns herausgezogen und nach ihrem Willen geformt hatte.
Warum hat sie das getan? fragte ich mich. Vielleicht, um eine Macht zu demonstrieren, über die sie nicht verfügte, vielleicht aus reiner, elfenhafter Mutwilligkeit, oder vielleicht, wie sie behauptete, um uns eine Lehre zu erteilen und uns vor uns selbst zu demütigen. Nun, wenn das der Fall gewesen sein sollte, so hatte sie ihr Ziel erreicht, denn noch nie hatte ich mich so geschlagen und gedemütigt gefühlt wie jetzt.
Ich glaubte, in den Hades hinab- oder hinaufgestiegen zu sein, und hatte dort nur Dinge gesehen, die mich nicht gerade glücklich gemacht, sondern die lediglich alte Wunden geöffnet hatten. Und dann, beim Erwachen, war ich verzaubert worden; ja, frisch von diesen Visionen von geliebten Toten zurückgekehrt, war ich von der überwältigenden Schönheit und dem hinreißenden Charme dieser Frau verzaubert worden, nur um von ihrem triumphierenden Spott wieder zur Besinnung gebracht zu werden. Oh! Ich war wirklich gedemütigt worden, konnte jedoch seltsamerweise keinerlei Wut auf sie empfinden, und glaubte, was noch mehr war, vielleicht aus Eitelkeit, an ihre Versicherung von Freundschaft mir gegenüber.
Nun, das Resultat von alledem war, daß ich, genau wie Umslopogaas, nur den einen Wunsch hatte, dieses unheimliche Kôr so bald wie möglich zu verlassen, und alle Erinnerungen daran bei solchen Erlebnissen vergessen zu können, die das Schicksal für mich bereithalten mochte. Und doch – und doch! – war es gut, dies gesehen zu haben und die Blume eines so wundersamen Erlebnisses zu pflücken, und ich wußte schon jetzt, daß ich nie – niemals! – die Erinnerung an Ayesha, die Weise, die Vollkommene, die Halbgöttliche begraben würde können.
Als ich am folgenden Morgen erwachte, stand die Sonne bereits hoch über dem Horizont, und nachdem ich in dem alten Bad geschwommen und mich angezogen hatte, sah ich nach Inez. Ich fand sie vor der Tür ihres Hauses sitzend, und sie sah gesund und strahlend aus. Sie war damit beschäftigt, einen Kranz aus blauen Blüten einer der Iris ähnlichen Blume zu flechten, von denen es hier eine Unmenge gab, und die sie auf trockene Grashalme zog. Als dieser Kranz fertig war, legte sie ihn sich um den Hals, so daß er auf ihr weißes Gewand herabhing, denn nun war sie für die Reise wie eine Araberin gekleidet, doch ohne den Schleier. Ich beobachtete sie ungesehen für eine Weile, trat dann auf sie zu und sprach sie an. Sie fuhr bei meinem Anblick zusammen und erhob sich, als ob sie fortlaufen wollte; dann jedoch schien sie mich zu erkennen, wählte eine besonders schöne Blume aus und reichte sie mir.
Ich merkte jedoch sofort, daß sie mich überhaupt nicht erkannte und glaubte, mich noch nie zuvor gesehen zu haben; kurz gesagt: ihr Verstand war verwirrt, genauso, wie Ayesha es mir vorausgesagt hatte. Um ein Gespräch mit ihr anzuknüpfen, fragte ich sie, wie sie sich fühle. Ausgezeichnet, versicherte sie mir, noch nie habe sie sich so gut gefühlt.
»Daddy ist auf eine lange Reise gegangen«, setzte sie dann hinzu, »und wird für Wochen und Wochen nicht zurückkommen.«
Mir kam ein Gedanke, und ich antwortete: »Ja, ich weiß; Inez, aber er hat mich hergeschickt, um dich an einen Ort zu bringen, wo wir ihn, wie ich hoffe, wiedertreffen werden. Doch dieser Ort liegt sehr weit entfernt von hier, also mußt du eine lange Reise machen.«
Sie klatschte in die Hände und rief: »Oh, das ist schön! Ich mag Reisen, und besonders, wenn ich damit Daddy wiederfinden kann, der mir sicher auch meine Kleider mitbringt, weil ich dieses nicht mag, da es zwar bequem und hübsch ist, aber irgendwie anders als die, welche ich sonst trug. Du siehst auch sehr gut aus, und ich denke, daß wir gute Freunde werden, und darüber bin ich froh, denn ich bin etwas einsam, seit meine Mutter fortging, um bei den Engeln im Himmel zu leben, weil Daddy so viel zu tun hat und so oft fort ist, daß ich ihn nur selten sehe, mußt du wissen.«
Bei meinem Eid, ich hätte weinen können, als ich sie so plappern hörte. Es ist so furchtbar unnatürlich, fast unheimlich, einer erwachsenen Frau zuhören zu müssen, die mit den Betonungen und den Ausdrücken eines Kindes spricht. Doch unter den
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