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Titel: Sie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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hatte er noch nie etwas gehört.
    »Novril«, murmelte er und wühlte hektisch in dem Karton herum, während Schweiß über sein Gesicht rann und seine Beine pochten und pulsierten. »Novril, wo ist das beschissene Novril? «
    Kein Novril. Er klappte den Karton wieder zu und schob ihn in den Schrank zurück, wobei er nur einen halbherzigen Versuch unternahm, ihn wieder genau so hinzustellen, wie er ihn vorgefunden hatte. Dürfte einerlei sein, es sah hier drin sowieso aus wie ein verfluchter Abfallhaufen …
    Indem er sich weit nach links beugte, gelang es ihm, einen zweiten Karton aufzuheben. Er machte ihn auf und konnte kaum glauben, was er sah.
    Darvon. Darvocet. Darvon Compound. Morphose und Morphose Complex. Librium. Valium. Und Novril. Dutzende und Aberdutzende Probepäckchen. Entzückende Päckchen. Herrliche Päckchen. O entzückende, herrliche, gesegnete Päckchen. Er riss eines auf und sah die Kapseln, die sie ihm alle sechs Stunden gab, in ihrer Folie.
    VERSCHREIBUNGSPFLICHTIG stand auf der Packung.
    »Gütiger Heiland, ich verschreibe sie mir!«, schluchzte Paul. Er riss das Zellophan mit den Zähnen auf und zerbiss drei der Kapseln, ohne auf den ekelhaft bitteren Geschmack zu achten. Er hielt inne, betrachtete die fünf, die noch in der Hülle steckten, und schluckte eine vierte.
    Er sah sich rasch mit gehetztem, ängstlichem Blick um, das Kinn auf die Brust gesenkt. Er wusste zwar, dass es zu früh war, irgendeine Linderung zu spüren, aber er spürte sie dennoch - die Tabletten zu besitzen schien wichtiger zu
sein, als die Tabletten zu nehmen . Es war, als hätte man ihm die Herrschaft über den Mond und die Gezeiten verliehen - oder als hätte er einfach hinaufgegriffen und sie sich genommen. Es war ein unermesslicher Gedanke, Ehrfurcht gebietend … aber auch erschreckend, mit einem Beigeschmack von Schuld und Blasphemie.
    Wenn sie jetzt zurückkommt …
    »Schon gut - okay. Hab schon verstanden.«
    Er sah in den Karton und versuchte abzuschätzen, wie viele Proben er mitnehmen konnte, ohne dass sie bemerkte, wie eine kleine Maus namens Paul Sheldon ihre Vorräte angeknabbert hatte.
    Über diesen Gedanken kicherte er, ein schriller, erleichterter Laut, und er spürte, dass das Medikament nicht nur in seinen Beinen wirkte. Er hatte seinen Schuss bekommen, wenn man es ganz vulgär ausdrücken wollte.
    Beweg dich, Idiot. Du hast keine Zeit, dich darüber zu freuen, wie high du bist.
    Er nahm fünf Packungen - insgesamt vierzig Kapseln. Er musste sich zwingen, nicht mehr zu nehmen. Die verbleibenden Proben mischte er durcheinander und hoffte, das Ergebnis würde so chaotisch aussehen, wie er alles vorgefunden hatte. Er klappte den Karton zu und schob ihn wieder in den Wäscheschrank.
    Ein Auto näherte sich.
    Er schreckte mit weit aufgerissenen Augen hoch. Seine Hände fielen auf die Armlehnen des Rollstuhls und umklammerten sie in panischer Anspannung. Wenn es Annie war, dann war er geliefert, und das dürfte es dann gewesen sein. Es würde ihm niemals gelingen, dieses klobige, übergroße Ding rechtzeitig ins Schlafzimmer zurückzubugsieren.
Vielleicht gelang es ihm, sie einmal mit dem O-Cedar-Mopp zu schlagen, bevor sie ihm wie einem Huhn den Hals herumdrehte.
    Er saß mit den Novril-Proben auf dem Schoß im Rollstuhl, betrachtete die steif ausgestreckten Beine und wartete darauf, ob das Auto in die Einfahrt einbiegen oder weiterfahren würde.
    Der Motorenlärm schwoll endlos an … dann wurde er wieder leiser.
    Okay. Brauchst du noch eine deutlichere Warnung, Paul-Baby?
    Ganz gewiss nicht. Er sah die Kartons zum letzten Mal an. Er hatte den Eindruck, als würden sie genauso aussehen wie vorher, bevor er sie durchsucht hatte - wenngleich er sie durch den Nebel des Schmerzes hindurch gesehen hatte und sich nicht ganz sicher sein konnte -, aber er wusste, die Anordnung der Kartons war vielleicht nicht so zufällig, wie er vermutete, oh, ganz und gar nicht. Sie hatte die überdeutliche Wahrnehmung einer zutiefst neurotischen Person; es konnte sein, dass sie sich die Lage jedes einzelnen Kartons genau eingeprägt hatte. Sie warf vielleicht nur einen flüchtigen Blick herein und bemerkte auf eine geheimnisvolle Weise sofort, was geschehen war. Diese Gedanken verursachten jedoch keine Furcht in ihm, sondern vielmehr ein Gefühl der Resignation - er hatte die Medizin gebraucht, und es war ihm irgendwie gelungen, aus seinem Zimmer zu entkommen und sie sich zu beschaffen. Wenn das zu Konsequenzen führte, zu

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