Sie
einer Bestrafung, dann konnte er sich ihr immerhin mit dem sicheren Wissen stellen, dass er nicht anders handeln konnte. Von allem, was sie ihm angetan hatte, war diese Resignation eindeutig
ein Symptom des Schlimmsten - sie hatte ihn in ein von Schmerzen zerrüttetes Tier verwandelt, das keinerlei moralische Wahlfreiheit mehr besaß.
Langsam rollte er mit dem Stuhl rückwärts aus dem Badezimmer hinaus, wobei er sich häufig umsah, ob er nicht etwa vom Kurs abkam. Vorher hätte ihn jede einzelne dieser Bewegungen vor Schmerzen aufschreien lassen, aber jetzt verschwanden die Schmerzen unter einer wunderbaren, glasklaren Oberfläche.
Er rollte auf den Flur, als ihm ein schrecklicher Gedanke kam: Wenn der Boden im Bad feucht gewesen war, oder gar ein wenig schmutzig …
Er starrte auf den Boden, und einen Augenblick war die Vorstellung, er musste auf diesen sauberen weißen Fliesen Spuren hinterlassen haben, so überzeugend, dass er sie tatsächlich sah . Er schüttelte den Kopf und sah noch einmal hin. Keine Spuren. Aber die Tür stand weiter offen als vorher. Er rollte vorwärts und lenkte den Rollstuhl ein wenig nach rechts, sodass er an den Türknauf herankommen konnte, und zog die Tür halb zu. Er betrachtete sie, dann zog er sie noch etwas näher an den Türpfosten. So. Das sah gut aus.
Er griff nach den Rädern und wollte den Stuhl drehen, sodass er in sein Zimmer zurückrollen konnte, als ihm klar wurde, dass der Rollstuhl mehr oder weniger in Richtung Wohnzimmer zeigte, und im Wohnzimmer hatten die meisten Menschen ihr Telefon stehen, und …
Licht flutete seinen Verstand wie Sonnenschein eine nebelverhangene Wiese.
»Hallo, Polizeirevier Sidewinder, Officer Humbuggy am Apparat.«
»Hören Sie mir gut zu, Officer Humbuggy. Hören Sie mir ganz genau zu und unterbrechen Sie mich nicht, denn ich weiß nicht, wie viel Zeit ich habe. Mein Name ist Paul Sheldon. Ich rufe von Annie Wilkes’ Haus an. Ich bin seit mindestens zwei Wochen, vielleicht sogar seit einem Monat ihr Gefangener. Ich …«
»Annie Wilkes!«
»Kommen Sie sofort hierher. Schicken Sie einen Krankenwagen. Und seien Sie um Himmels willen hier, bevor sie zurückkommt …«
»Bevor sie zurückkommt«, stöhnte Paul. »O ja. Unbedingt.«
Wie kommst du darauf, dass sie überhaupt ein Telefon besitzt? Hast du sie jemals jemanden anrufen hören? Wen sollte sie auch anrufen? Ihre guten Freunde, die Roydmans?
Aus der Tatsache, dass sie niemanden hat, mit dem sie den ganzen Tag tratschen kann, folgt noch lange nicht, dass sie sich nicht bewusst ist, wie schnell ein Unfall geschehen kann; sie könnte die Treppe herunterfallen und sich einen Arm oder ein Bein brechen, der Stall könnte Feuer fangen …
Wie oft hast du dieses mutmaßliche Telefon schon läuten hören?
Also gibt es da eine Mindestanforderung, ja? Das Telefon muss mindestens einmal täglich läuten, sonst kommt die Firma Mountain Bell und nimmt es wieder mit? Darüber hinaus warst du ohnedies nur selten bei Bewusstsein.
Du strapazierst dein Glück. Du strapazierst dein Glück, und du weißt es ganz genau.
Ja. Das wusste er, aber der Gedanke an das Telefon, die Vorstellung vom Gefühl des kühlen schwarzen Plastik unter
den Fingern, das Klicken der Wählscheibe oder das anhaltende Freizeichen, wenn er die 0 wählte - das alles waren Verführungen, denen er nicht widerstehen konnte.
Er drehte den Rollstuhl so herum, dass er direkt in Richtung Wohnzimmer zeigte, dann rollte er hinüber.
Das Zimmer roch muffig, ungelüftet und seltsam müde. Die Vorhänge vor dem Erkerfenster waren zwar nur halb zugezogen, man konnte das herrliche Panorama der Berge dahinter sehen, und dennoch schien es in dem Zimmer viel zu dunkel zu sein - weil die Farben zu dunkel waren, dachte er. Dunkles Rot war vorherrschend, als hätte jemand hier drinnen eine große Menge Blut verschüttet.
Über dem Kaminsims hing die getönte Fotografie einer unfreundlichen Frau, deren winzige Äuglein in dem fleischigen Gesicht zu verschwinden schienen. Der Rosenknospenmund war geschürzt. Das Foto, welches von einem vergoldeten Rokokorahmen umgeben war, hatte die Größe eines Porträts des Präsidenten im Foyer eines großen städtischen Postamts. Paul musste niemanden fragen, um zu wissen, dass dies Annies selige Mutter war.
Er rollte weiter in das Zimmer hinein. Die linke Seite seines Rollstuhls stieß gegen ein kleines Kaffeetischchen, auf dem Nippesfiguren standen. Sie erzitterten klappernd, und eine davon - ein
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