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Titel: Sie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Taschentuch aus der Tasche. Er schnäuzte sich heftig hinein, und seine Augen wurden feucht.
    "Wir alle sind bekümmert ob ihres Dahinscheidens." Geoffrey legte die Hände auf sein Hemd und strich damit fest über den darunterliegenden Verband.
    "Gewiss, das tun wir, Sair, das tun wir." Colters Worte klangen gedämpft durch das Taschentuch, aber Geoffrey konnte seine
Augen sehen: Der Mann weinte tatsächlich aufrichtig. Nun endlich verging auch sein eigener selbstsüchtiger Ärger und wurde zu Mitleid. "Sie war eine gute Lady, Sair! Ja, sie war eine feine Lady, und es ist eine schreckliche Sache, wie unser Herrgott sie zu sich genommen hat..."
    "Gewiss, sie war fein", sagte Geoffrey sanft und stellte mit Missfallen fest, dass mittlerweile auch er den Tränen nahe war, gleich einem drohenden Wolkenbruch an einem Spätsommernachmittag. "Manchmal, Colter, wenn jemand besonders Feines dahinscheidet -- jemand, der uns allen besonders nahesteht --, dann fällt es uns sehr schwer, diese Person gehen zu lassen. Daher stellen wir uns vielleicht vor, dass er oder sie nicht gegangen ist. Können Sie mir folgen?"
    "Gewiss doch, Sair!", sagte Colter eifrig. "Aber diese Geräusche... Sair, die habe ich gehört!"
    Geduldig sagte Geoffrey: "Was für eine Art von Geräuschen meinen Sie denn?"
    Er glaubte, Colter würde nun von Geräuschen erzählen, die nichts weiter sein konnten als der Wind in den Bäumen, Geräusche, die seine Fantasie natürlich ausgeschmückt hatte -- oder vielleicht ein Dachs, der sich seinen Weg hinab zum Little Dunthorpe Stream bahnte, welcher hinter dem Friedhof verlief. Daher war er kaum für das gerüstet, was
Colter nun mit furchtsamer Stimme flüsterte: "Ein Kratzen, Sair! Es klingt, als wäre sie da unten immer noch am Leben und versucht, sich wieder zum Land der Lebenden emporzugraben, so klingt es!"

KAPITEL 2
    Fünfzehn Minuten später, als er wieder allein war, trat Geoffrey zur Anrichte im Esszimmer. Er schwankte von einer Seite zur anderen, gleich einem Mann, der über die Planken eines schlingernden Schiffes schreitet. Er fühlte sich wie ein Mann bei wogendem Seegang. Er hätte gern geglaubt, dass das Fieber, welches Dr. Shinebone fast wonnevoll prophezeit hatte, nun endlich doch zum Ausbruch gekommen war, und zwar mit allem Nachdruck, aber es war nicht das Fieber, welches gleichzeitig rote Rosen auf seinen Wangen erblühen ließ und seiner Stirn die Farbe von Kerzenwachs verlieh; nicht Fieber, das seine Hände so sehr zittern ließ, dass er beinahe den Kognakschwenker fallen gelassen hätte, als er ihn aus der Anrichte herausholte.
    Wenn die Möglichkeit bestand -- die winzigste Möglichkeit --, dass die ungeheuerliche Vorstellung, die Colter seinem Verstand eingegeben hatte, wahr sein
konnte, dann durfte er nicht mehr hier verweilen. Aber er dachte, ohne einen Drink würde er ohnmächtig niedersinken.
    Geoffrey Alliburton tat in diesem Augenblick etwas, was er in seinem ganzen Leben noch nicht getan hatte und das er auch nie wieder tun würde. Er hob die Flasche direkt zum Mund und trank daraus.
    Dann trat er zurück und flüsterte: "Wir werden uns das besehen. Wir werden uns das besehen, bei Gott. Und wenn ich mich auf dieses irrsinnige Unternehmen einlasse, nur um am Ende nichts zu finden als die Hirngespinste eines alten Totengräbers, dann werde ich die Ohrläppchen des alten Colter an meiner Uhrenkette tragen, einerlei, wie sehr er Misery geliebt hat."

KAPITEL 3
    Er nahm die Ponykutsche und fuhr unter einem unheimlichen, nicht ganz dunklen Himmel dahin, wo ein zu drei Vierteln voller Mond sich rastlos hinter Wolkenfetzen verbarg und wieder hervorkam. Er hatte nur verweilt, um sich das Erstbeste aus dem Schrank im Flur überzuziehen, was ihm in die Hände gefallen war -- dies entpuppte sich als eine dunkelbraune Smokingjacke. Die Schöße wehten hinter ihm her, während er Mary mit der
Peitsche antrieb. Die alte Stute mochte die Geschwindigkeit nicht, die er verlangte; Geoffrey mochte die zunehmenden Schmerzen in seiner Schulter und Seite nicht... aber am Missfallen beider ließ sich nichts ändern.
    Ein Kratzen, Sair! Es klingt, als wäre sie da unten immer noch am Leben und versucht, sich wieder zum Land der Lebenden emporzugraben!
    Das allein hätte ihn nicht in diesen entsetzten Zustand versetzt -- aber er erinnerte sich daran, wie er am Tag nach Miserys Tod nach Calthorpe Manor gekommen war. Er und Ian hatten sich angesehen, und Ian hatte versucht zu lächeln, wenngleich seine Augen

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