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Titel: Sie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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plötzlich wusste Geoffrey immerhin eines -wer dieser nächtliche Besucher war. Die Erwähnung von Dr. Bookings, dem Pastor, hatte die Erinnerung geweckt. Vor drei Tagen hatte Dr. Bookings auf dem Friedhof hinter der Pfarrei Misery die Sterbesakramente gegeben, und dieser Mann war dabei gewesen -- auch wenn er sich immer im Hintergrund gehalten hatte, wo er nicht so leicht auffallen konnte.
    Sein Name war Colter. Er war einer der Küster der Kirche. Um es ganz unverblümt zu sagen, der Mann war Totengräber.
    "Colter", sagte er. "Was kann ich für Sie tun?"
    Colter sprach nur zögernd. "Es ist wegen der Geräusche, Sair. Die Geräusche auf dem Friedhof. Ihre Ladyschaft ruht nicht in Frieden, Sair, das tut sie nicht, und ich habe Angst. Ich..."
    Geoffrey war zumute, als hätte ihm jemand einen Schlag in den Magen verpasst. Er sog heftig die Luft ein, und heiße Schmerzen stachen in seine Seite, wo Dr. Shinebone die Rippen fest verbunden hatte. Shinebones düstere Diagnose war gewesen, dass Geoffrey fast sicher eine Lungenentzündung bekommen würde, nachdem er fast die ganze Nacht im kalten Regen im Straßengraben gelegen hatte, aber inzwischen waren drei Tage verstrichen,
und er hatte weder Fieber noch Husten bekommen. Er hatte gewusst, dass er nichts bekommen würde -- Gott entließ die Schuldigen nicht so einfach. Er glaubte, dass Gott ihn noch sehr, sehr lange am Leben lassen würde, damit er die Erinnerung an seine arme verschiedene Geliebte noch ebenso lange in sich lebendig erhalten konnte.
    "Geht’s Ihnen gut, Sair?", fragte Colter. "Hab gehört, es hat Sie ganz schön mitgenommen letztens nachts." Er machte eine Pause. "In der Nacht, als sie gestorben ist."
    "Mir geht es gut", sagte Geoffrey langsam. "Colter, diese Geräusche, die Sie gehört haben wollen... Sie wissen, dass Sie sich die nur einbilden, nicht wahr?"
    Colter sah ihn schockiert an.
    "Einbilden?", fragte er. "Sair! Als Nächstes sagen’se mir, dass’se nich an Jesus Christus und das ewige Leben glauben! Hat Duncan Fromsley nicht den alten Patterson zwei Tage nach seiner Beerdigung gesehen, so leuchtend weiß wie ein Irrlicht (und genau das ist es wahrscheinlich auch gewesen, dachte Geoffrey, ein Irrlicht in Verbindung mit dem Inhalt der Flasche des alten Fromsley) ? Und hat nicht die halbe verdammte Stadt diesen alten Papistenmönch gesehen, der auf den Zinnen von Ridgeheath Manor entlangspaziert? Sie haben sogar ein paar
Damen von der verdammten übersinnlichen Gesellschaft aus London hergeschickt, um sich das anzusehen!"
    Geoffrey kannte die Damen, die Colter meinte: ein paar hysterische feine Ladys, die wahrscheinlich unter den Flauten und Wallungen der Wechseljahre litten, und sie waren beide so zerstreut gewesen wie das Memory-Spiel eines Kindes.
    "Geister sind ebenso wirklich wie Sie oder ich, Sair", sagte Colter im vollen Ernst. "Mir macht die Vorstellung von ihnen nichts aus -- aber diese Geräusche sind grauenerregend, das sind sie, und ich mag kaum noch in die Nähe des Friedhofs gehen -dabei muss ich morgen ein Grab für das kleine Roydman-Baby ausheben, ja, das muss ich."
    Geoffrey betete innerlich um Geduld. Sein Drang, diesen armen Küster anzuschreien, war fast übermächtig. Er hatte friedlich vor dem Kamin gedöst, ein Buch auf dem Schoß, als dieser Colter gekommen war und ihn geweckt hatte... und mit jedem Augenblick wurde er wacher, und damit ergriff die dumpfe Gram von ihm Besitz, das Bewusstsein, dass seine Liebste nicht mehr war. Sie lag seit drei Tagen im Grab, bald würde es eine Woche sein... ein Monat... ein Jahr... zehn Jahre. Der Kummer, dachte er, war wie ein Fels an der Meeresküste. Wenn man schlief,
dann war es, als wäre die Flut da, und man verspürte eine gewisse Erleichterung. Der Schlaf war wie die Flut, welche den Felsen des Kummers überspülte. Wenn man jedoch erwachte, dann ging die Flut zurück, und bald war der Fels wieder sichtbar, ein mit Muscheln überkrustetes Ding von unzweifelhafter Realität, ein Ding, das für immer da sein würde oder bis es Gott gefiel, es fortzuspülen.
    Und dieser Narr wagte es, daherzukommen und etwas von Geistern zu faseln!
    Aber das Gesicht des Mannes sah so kläglich aus, dass es Geoffrey gelang, sich zu beherrschen.
    "Miss Misery -- Ihre Ladyschaft -- war viel geliebt", sagte Geoffrey leise.
    "Gewiss, Sair, das war sie", stimmte Colter nachdrücklich zu. Er überließ es nun allein seiner linken Hand, die Mütze zu drehen, mit der rechten holte er ein riesiges rotes

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