Sie
aufgrund der unvergossenen Tränen funkelten wie Edelsteine.
"Irgendwie wäre es leichter gewesen", hatte Ian gesagt, "wenn sie mehr wie... mehr wie tot ausgesehen hätte. Ich weiß, wie sich das anhört..."
"Unsinn", hatte Geoffrey gesagt und seinerseits versucht zu lächeln. "Der Bestatter hat zweifellos seine ganze Kunstfertigkeit aufgewendet und..."
"Bestatter!", hatte Ian beinahe geschrien, und zum ersten Mal war Geoffrey wirklich klar geworden, dass sein Freund sich wahrhaftig am Rand des Wahnsinns befand. "Bestatter! Ghul! Ich hatte keinen Bestatter, und ich lasse nicht zu, dass ein Bestatter
daherkommt und meinen Liebling schminkt und anmalt wie eine Puppe!"
"Ian! Mein guter Freund! Wirklich, du musst nicht..." Geoffrey hatte vorgehabt, Ian auf die Schulter zu klopfen, aber irgendwie wurde eine Umarmung daraus. Die beiden Männer weinten eng umschlungen wie müde Kinder, während in einem anderen Zimmer Miserys Kind, ein Knabe, der nun fast einen Tag alt war und immer noch keinen Namen hatte, erwachte und zu schreien anfing. Mrs. Ramage, deren gütiges Herz ebenfalls gebrochen war, fing an, ihm ein Schlummerlied zu singen, ihre Stimme klang brüchig und voller Tränen.
Zu dem Zeitpunkt war er in großer Sorge um Ians Geisteszustand gewesen und hatte weniger auf das gehört, was er gesagt hatte, sondern wie er es gesagt hatte -erst jetzt, während er Mary trotz seiner eigenen zunehmenden Schmerzen immer schneller in Richtung Little Dunthorpe antrieb, fielen ihm die Worte wieder ein, und im Licht von Colters Geschichte bekamen sie einen neuen unheimlichen Sinn: Wenn sie mehr wie tot ausgesehen hätte. Wenn sie mehr wie tot ausgesehen hätte, alter Freund.
Und das war noch nicht alles. Am Spätnachmittag, als die ersten der Dorfbewohner den Weg zum Calthorpe Hill heraufgekommen waren,
um dem trauernden Lord ihren Respekt zu erweisen, war Shinebone zurückgekehrt. Er hatte müde und selbst nicht besonders wohl ausgesehen; was aber eigentlich nicht überraschend war, behauptete der Mann doch, dass er Lord Wellington die Hand geschüttelt hatte -- dem Eisernen Herzog höchstpersönlich --, als er (Shinebone, nicht Wellington) noch ein Junge gewesen war. Geoffrey war der Meinung, dass die Lord-Wellington-Geschichte wahrscheinlich übertrieben war, aber Old Shinny, wie er und Ian ihn als Jungen genannt hatten, hatte Geoffrey während all seiner Kinderkrankheiten versorgt, und Shinny schien in seinen Augen schon damals ein sehr alter Mann zu sein. Berücksichtigte man, dass in den Augen eines Kindes jeder über fünfundzwanzig bereits als alt galt, so musste, dachte er, Shinny inzwischen dennoch über fünfundsiebzig sein.
Er war alt... er hatte hektische, schreckliche vierundzwanzig Stunden hinter sich... und konnte es nicht sein, dass ein alter Mann einen Fehler gemacht haben mochte?
Einen schrecklichen, unaussprechlichen Fehler?
Es war dieser Gedanke, der ihn mehr als jeder andere hinaus in diese kalte und stürmische Nacht getrieben hatte, unter
einem Mond, welcher unsicher zwischen den Wolken aufblitzte.
Konnte er einen solchen Fehler gemacht haben? Ein Teil von ihm, ein zaghafter, feiger Teil, der lieber riskieren würde, Misery für immer zu verlieren, als die unweigerlichen Folgen eines solchen Fehlers sehen zu müssen, verneinte es. Aber als Shinny hereingekommen war...
Geoffrey hatte neben Ian gesessen, der sich in einer gebrochenen, kaum verständlichen Weise erinnert hatte, wie er und Ian Misery aus dem Palastkerker eines wahnsinnigen französischen Vicomtes namens Leroux gerettet hatten, wie sie inmitten einer Wagenladung Heu entkommen waren und wie Misery im entscheidenden Moment einen der Wachsoldaten des Vicomte abgelenkt hatte, indem sie ein prachtvolles entblößtes Bein aus dem Heu herausgestreckt und aufreizend damit gewinkt hatte. Geoffrey hatte seinen eigenen Erinnerungen an dieses Abenteuer nachgehangen, gänzlich in seinem Kummer gefangen, und diesen Kummer verfluchte er jetzt, denn für ihn (und ebenso für Ian, vermutete er) war Shinny praktisch gar nicht da gewesen.
Hatte Shinny nicht seltsam abwesend gewirkt, seltsam zerstreut? War es nur Erschöpfung gewesen oder noch etwas anderes... ein Verdacht...?
Nein, sicher nicht , protestierte sein Verstand unbehaglich. Die Ponykutsche flog den Calthorpe Hill hinauf. Das Herrenhaus selbst war dunkel, aber -- oh, gut! -- ein einzelnes Licht leuchtete noch in Mrs. Ramages Kate.
"Auf, Mary!", rief er und knallte mit der Peitsche. "Nicht
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