Sieben Jahre später
war Rocinha auf den Morros, jenen Bergen, die die Stadt überragten, erbaut. Nikki blickte aus dem Fenster und entdeckte Tausende von Behausungen, die an den Hängen zu kleben schienen. Ein Gewirr von Backsteinhäuschen, das den Eindruck erweckte, jeder Zeit einstürzen zu können.
Als sie jetzt die »Asphaltviertel«, das heißt die Viertel der Reichen am Meer, verließen und sich den Hügeln näherten, wurde ihnen das Paradox wirklich bewusst: Die Favelas, diese schwer zu erreichenden Adlernester, boten den schönsten Panoramablick auf die Strände von Leblon und Ipanema sowie über die Festung. Ein idealer Aussichtspunkt auf die Stadt, was erklärte, dass die Drogenhändler sie zu ihrem Hauptquartier gemacht hatten.
Sebastian schaltete zurück. Sie näherten sich den Toren von Rocinha , doch in einer doppelten Haarnadelkurve begann sich der Verkehr zu stauen. Nur die alten Mofas und knatternden Motorradtaxis kamen durch.
»Am besten halten wir hier an«, riet Cristina.
Sebastian parkte den Wagen am Straßenrand, und sie legten die hundert Meter bis zum Eingang der Favela zu Fuß zurück.
Auf den ersten Blick war hier nichts von der Armut, die in den Reiseführern beschrieben wurde, zu sehen. Nikki und Sebastian hatten damit gerechnet, in ein wahres Ganovennest zu geraten, doch die Straßen waren sauber, die Betonhäuser hatten fließend Wasser, Strom und Kabelanschluss. Einige der bis zu drei Stockwerke hohen Gebäude waren zwar mit Graffiti besprüht, doch die bunten Farben sorgten für ein fröhliches Ambiente und gute Laune.
»In Rio leben mehr als zwanzig Prozent der Cariocas in einer Favela«, erklärte Cristina. »Die meisten, die hier wohnen, haben eine anständige Arbeit, sind Tagesmütter, Putzfrauen, Krankenschwestern, Busfahrer und sogar Lehrer …«
Die Stimmung war heiter. Aus den Häusern drang lautstarker baile funk . Auf der Straße spielten Kinder Fußball, auf den Terrassen der Kneipen tranken Männer ihr Bamberg Pilsen, während sich die oft noch sehr jungen Frauen um ihre Babys kümmerten oder miteinander plauderten.
»Polizei und Armee haben hier kürzlich eine Razzia durchgeführt«, erklärte Cristina entschuldigend, als sie an einem bunten Wandbild vorbeikamen, das von Einschüssen übersät war. Dann verließen sie die Hauptstraße und liefen durch ein Gewirr von schmalen, steilen Gassen. Ein schwer zugängliches Labyrinth, das schließlich in Treppen überging. Langsam veränderte sich die Atmosphäre. Die Behausungen erinnerten jetzt eher an Holzkutter, die nach einem Schiffbruch notdürftig geflickt worden waren. Vor den Türen türmte sich der Müll, und über ihren Köpfen hingen verschlungene elektrische Kabel, die illegale Stromanschlüsse verrieten. Leicht beunruhigt versuchten Sebastian und Nikki, sich von den Kindern zu entfernen, die sie bedrängten und anbettelten.
Hier hatten die Straßen keine Namen und die Häuser keine Nummern mehr. Ihre Schatten fielen über die offene Kanalisation, in der das Brackwasser die Fliegen anzog.
»Oft beschränkt sich die Stadtverwaltung darauf, die Mülltonnen in den Hauptstraßen einzusammeln«, erklärte Cristina.
Unter der Führung der jungen Bedienung beschleunigte das Trio den Schritt und scheuchte auf seinem Weg Ratten auf. Fünf Minuten später erreichten sie einen anderen Hang des Hügels, auf dem noch baufälligere Hütten standen.
»Hier ist es«, sagte Cristina und klopfte an das Fenster eines Häuschens mit abbröckelnder Fassade.
Nach einer Weile öffnete ihnen eine alte Frau mit gebeugtem Rücken die Tür.
»Das ist Flavias Mutter.«
Trotz der Hitze war sie in ein dickes Schultertuch gehüllt.
» Bon dia, Senhora Fontana. Você já viu Flavia ?«
» Olá Cristina «, begrüßte die Alte sie, bevor sie ihre Frage beantwortete, ohne sich aus der Türöffnung zu bewegen.
Cristina wandte sich zu den Larabees und übersetzte: »Senhora Fontana hat seit zwei Tagen nichts mehr von ihrer Tochter gehört und …«
Noch ehe sie ihren Satz vollendet hatte, unterbrach die Mutter sie. Nikki und Sebastian, die kein Wort Portugiesisch verstanden, konnten dem Gespräch der beiden Brasilianerinnen nicht folgen.
»Wie kann diese Frau eine zwanzigjährige Tochter haben?«, fragte Nikki und musterte die alte Carioca. Das von tiefen Falten zerfurchte Gesicht verriet Unruhe und mangelnden Schlaf. Man hätte sie leicht auf siebzig Jahre schätzen können. Ihr von Klagelauten unterbrochenes Geschwätz war unerträglich.
Cristina
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