Sieben Jahre später
Führerschein heraus. Als er an der Reihe war, zögerte er, welches Modell er wählen sollte. Würde sich ihre Suche auf den Stadtbereich beschränken oder sie in unwegsamere Gefilde führen? Vorsichtshalber entschied er sich für einen kompakten Landrover, den er anschließend in der sengenden Sonne auf dem Parkplatz abholte.
Schweißgebadet zog er seine Jacke aus und setzte sich ans Steuer, während Nikki auf dem Beifahrersitz Platz nahm und auf dem Handy die Nachricht von Constance abhörte.
Wie vereinbart hatte sie ihnen ein Hotelzimmer im Ipanema-Viertel reserviert, ganz in der Nähe des Strandes, an dem Flavia arbeitete. Sie führte ihrerseits die Ermittlungen weiter und wünschte ihnen viel Glück.
Von der Reise erschöpft, folgten sie schweigend den Schildern Zona Sul – Centro – Copacabana , die ihnen den Weg von der Ilha do Governador nach Süden, Richtung Stadtzentrum, wiesen.
Sebastian wischte sich die Stirn ab und rieb sich die brennenden Augen. Der Himmel war bleiern und wie ölig, die verschmutzte, stickige Luft beeinträchtigte sein Sehvermögen. Durch die getönten Scheiben nahmen sie die Stadtlandschaft undeutlich und in Orangetönen wahr wie ein grobkörniges Bild.
Schon nach wenigen Kilometern steckten sie im Stau. Resigniert sahen sie sich um. Entlang der Schnellstraße erhoben sich, so weit das Auge reichte, ockerfarbene Ziegelsteinbauten. Zweistöckige Häuser, an die Hänge gebaut, auf deren Flachdächern Wäsche flatterte. Ein chaotisches, gigantisches Labyrinth: Die Favela zerstückelte die Landschaft, verzerrte die Perspektiven und erinnerte an eine Art kubistische Collage in Ocker-, Rot- und Rosttönen.
Allmählich veränderte sich das Stadtbild. An die Stelle der Armensiedlungen traten Industriekomplexe. Alle paar Hundert Meter kündigten riesige Plakate die nächste Fußballweltmeisterschaft und die Olympischen Spiele 2016 an. Im Hinblick auf diese beiden sportlichen Ereignisse schien die ganze Stadt eine einzige Baustelle zu sein. Bulldozer walzten Mauerreste nieder, Schaufelbagger gruben sich ins Erdreich, und immer neue Lastwagen rollten heran.
Dann fuhren sie durch einen Wald von Wolkenkratzern im Businessviertel und erreichten den Süden der Stadt, wo die meisten großen Hotels und Einkaufszentren lagen. Hier glich die Stadt der Cariocas dem Bild, das man von Postkarten kannte – dem einer cidade maravilhosa , vom Meer gesäumt und von Bergen und Hügeln umrahmt.
Der Landrover rollte langsam über die Avenida Vieira Souto , die an dem berühmten Strand entlangführte.
»Hier ist es«, rief Nikki und zeigte auf ein kleines Haus mit einer eindrucksvollen Fassade aus Glas, Holz und Marmor.
Sie überließen den Geländewagen einem Pagen und betraten das Hotel. Wie alles in diesem Viertel war es elegant und erlesen eingerichtet, mit Mobiliar aus den 1950er- und 1960er-Jahren.
In der Lobby herrschte eine behagliche Atmosphäre: Wände aus Mauerziegeln, gedämpfte Musik, gepolsterte Sofas, Bibliothek im alten Stil . Nervös traten sie an die aus amazonischem Tropenholz gefertigte Rezeption und meldeten sich unter den Namen Constance Lagrange und Nicolas Botsaris an.
Nikki und Sebastian hielten sich nur kurz im Zimmer auf, um sich frisch zu machen und rasch einen Blick vom Balkon auf die Brandung zu werfen. Laut der Werbebroschüre des Hotels kam der Name Ipanema aus dem amerindianischen Dialekt und bedeutete »gefährliches Wasser«. Ein beunruhigendes Omen, dem sie keine weitere Bedeutung beimessen wollten. Fest entschlossen, das »Girl from Ipanema« zu finden, verließen sie das Hotel.
Draußen schlugen ihnen erneut Hitze, Auspuffgase und Verkehrslärm entgegen. Ein endloser Strom von Joggern und Skatern drängte sich auf dem Bürgersteig. In diesem Viertel gab es auch viele Luxusboutiquen, Fitnessstudios und Schönheitskliniken.
Nikki und Sebastian überquerten die Straße zu der palmengesäumten Promenade, die am Strand entlangführte. Hier tummelten sich fliegende Händler, die einander an Tricks überboten, um die Aufmerksamkeit der Touristen zu erregen. Mit Kühltaschen und Metallkanistern bewaffnet oder in ihren Buden hockend, boten sie Matetee oder Kokoswasser an, Wassermelone, goldbraunes Gebäck, knusprige, karamellisierte cocadas und Rindfleischspieße, deren würziger Geruch in der Luft hing.
Die beiden Amerikaner gingen über eine kleine Betontreppe zum Strand hinab. Schicker als die benachbarte Copacabana, war Ipanema ein drei Kilometer langer Streifen
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