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Sieben Jahre

Sieben Jahre

Titel: Sieben Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Stamm
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ihm ein Ultimatum gestellt. Er hat sich für seine Familie entschieden. Sonja lachte. Sie könne sich gut vorstellen, dass Rüdiger nie heirate, er interessiere sich nicht wirklich für Frauen. Du meinst, er ist schwul? Nein, sagte Sonja, für Männer interessiert er sich auch nicht. Wofür denn? Sie zuckte mit den Schultern. Ich weiß es auch nicht. Sie sagte, sie mache Rüdiger keinen Vorwurf, im Gegenteil, mit siebzehn sei sie ganz froh gewesen, einen Freund zu haben, der sie zu nichts drängte. Ich schwieg. Bei der Arbeit ist es dasselbe, sagte Sonja, das hat mich vielleicht noch mehr gestört. Er hat einfach keine Energie. Es ist typisch, dass er gekniffen hat vor dem Diplom. Jetzt kann er noch ein Jahr Student sein. Es würde mich nicht wundern, wenn er das Diplom überhaupt nie macht.
    Wir hatten die Berge verlassen und fuhren durch weite Ebenen. Je näher wir Mailand kamen, desto dichter wurde der Verkehr. Sonja war schweigsam geworden, sie musste sich konzentrieren. Dann ging es wieder über Land, und der Verkehr ließ nach. Was erwartest du denn von einer Frau?, fragte sie. Ich erwarte nichts. Wenn ich mich verliebt habe, dann muss ich sie eben nehmen, wie sie ist. Sonja lachte. Ich sei ein hoffnungsloser Romantiker. Deshalb müssten die Frauen vernünftig sein und sich die Männer aussuchen. Tust du das?, fragte ich. Sie war einen Moment lang still, dann sagte sie, klar tue ich das.
    Die Luft war dunstig, und es war sehr heiß im Auto. Wir hatten die Fenster geöffnet und hörten Radio und später Kassetten. Von Zeit zu Zeit bot ich Sonja an, sie abzulösen, aber sie schüttelte jedes Mal den Kopf und sagte, sie schaffe das schon. Zwei- oder dreimal hielt sie, ohne mich vorher zu fragen, bei einer Raststätte an, und wir tranken lauwarmen Kaffee aus der Thermosflasche und gingen auf die Toilette und fuhren dann weiter.
    Am späten Nachmittag kamen wir zur Küste, und eine gute Stunde später waren wir in Frankreich. Jetzt ist es nicht mehr weit, sagte Sonja.
     
    Wir erreichten Marseille um acht Uhr abends nach zwölf Stunden Fahrt. Doch bis wir das Haus, in dem Sonjas Freundin wohnte, gefunden hatten, dauerte es noch einmal eine halbe Stunde. Es war nicht weit vom alten Hafen, aber das Viertel war ein Gewirr von Einbahnstraßen, und wir fuhren endlos im Kreis herum, folgten Schildern, auf denen
Centre Ville
stand, und anderen mit der Aufschrift
Toutes Directions
. Ist das nicht schön, sagte ich, egal in welche Richtung man will, es gibt nur einen Weg. Sonja gab keine Antwort. Sie sah müde aus und genervt.
    Endlich fanden wir das Haus, ein fünfstöckiges Jugendstilgebäude mit schmutziger Fassade, und nicht weit davon einen freien Parkplatz. Sonja stellte den Motor ab und blieb sitzen. Jetzt sei sie doch ein wenig erschöpft. Soll ich dich rauftragen? Sie sagte, Antje wohne im fünften Stock.
    Sonja war vorausgegangen, während ich den Koffer und meine Tasche die Treppe hochschleppte. Von oben hörte ich, wie sich die Freundinnen begrüßten. Das ist Alexander, sagte Sonja, als ich den Treppenabsatz erreichte, und das ist Antje. Alex, sagte ich und gab der Malerin die Hand. Sie trug Dreiviertelhosen und ein ärmelloses Oberteil. Ihr Haar war blond wie das von Sonja. Sie hatte kleine, kräftige Hände und musste ziemlich viel älter sein als wir, um die vierzig, schätzte ich.
    Also hast du ihn rumgekriegt?, sagte sie mit einem spitzbübischen Lächeln. Antje!, rief Sonja mit gespielter Empörung und lachte, wir sind nur Kommilitonen, das habe ich dir doch gesagt. Antje sagte, wir sollten hereinkommen, sie habe etwas zu essen vorbereitet. Sie ging voraus durch einen dunklen Flur. Von außen hatte das Gebäude heruntergekommen gewirkt, aber die Wohnung war in gutem Zustand, die Räume waren hoch und licht und hatten alte knarrende Parkettböden. Überall an den Wänden hingen kleine Ölbilder, auf denen Tiere zu sehen waren, Meerkatzen und Vögel, Huf- und Nagetiere. Irgendetwas schien nicht zu stimmen mit ihnen, sie hatten etwas Unheimliches, schienen uns zu beobachten, uns aufzulauern. Antje führte uns auf den Balkon, wo auf einem Tisch im Licht einer Petroleumlampe und einiger Kerzen Brot und Käse standen, getrockneter Schinken und Oliven und eine große Schüssel grüner Salat.
    Wir aßen und tranken Wein und redeten. Um elf fragte Antje, ob wir noch ausgehen wollten, aber Sonja sagte, sie sei todmüde. Du kannst wählen, sagte Antje, entweder du schläfst mit deinem netten Kommilitonen im

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