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Sieben Jahre

Sieben Jahre

Titel: Sieben Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Stamm
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und das Bad. Vor ihrem Schlafzimmer legte sie den Finger auf die Lippen und nahm meine Hand. Leise öffnete sie die Tür und führte mich zum Bett. Ich hatte Sonja noch nie schlafen gesehen. Während ich sie betrachtete, geschah etwas Seltsames. Ihre Züge schienen sich zu verändern, es war mir, als sähe ich das Gesicht der alten Frau, die sie einmal sein würde. Antje beugte sich über sie, küsste sie auf die Stirn und sagte, schlaf gut, mein Meerschweinchen.
     
    Als ich am nächsten Morgen in die Küche kam, saßen Sonja und Antje schon da und tranken Kaffee. Sie schwiegen und schauten mich lächelnd an. Ich war sicher, dass sie über mich gesprochen hatten. Antje stand auf, um eine Tasse für mich zu holen. Sonja sagte, ich sei eine Schlafmütze.
    Nach dem Frühstück fuhren wir zur Cité Radieuse und besichtigten das ziemlich heruntergekommene Gebäude. Sonja wies mich auf jedes Detail hin und ging ganz langsam und mit leisen Schritten durch die dunklen Flure, als befänden wir uns in einer Kirche. Sie hatte recht gehabt, erst jetzt, wo ich mich im Gebäude bewegte, bemerkte ich seine Qualität. Die Räume und auch die Treppenhäuser waren überraschend klein und obwohl das Gebäude achtzehn Stockwerke hatte, wirkte es durch die Betonstützen, auf denen es stand, erstaunlich leicht. Es sei das erste Gebäude, das Le Corbusier nach dem Modulor gebaut habe, seinem selbstentwickelten Maßsystem, sagte Sonja. Ich erinnerte mich vage daran, dass wir im Studium darüber gesprochen hatten. Sonja zeigte mir eine Abbildung in ihrem Reiseführer, ein muskulöses, asexuelles Wesen mit großen Händen und kleinem Kopf und einem Loch anstelle des Bauchnabels. Wohnt der hier?, fragte ich. Der ideale Bewohner für das ideale Haus.
    Wir nahmen den Fahrstuhl zur Dachterrasse. Oben war es heiß und ich setzte mich in den Schatten des Dachaufbaus und las im Reiseführer, während Sonja alles erkundete.
    Wir nahmen den Bus zurück in die Stadt. Sonja hatte leuchtende Augen und schwärmte von der Wohneinheit. Sie erzählte mir davon, als sei ich nicht eben mit ihr da gewesen. Das Gebäude hatte mich beeindruckt, aber ich hatte Lust, Sonja zu widersprechen. Mal ganz ehrlich, würdest du da wohnen wollen? Sofort, sagte sie, du nicht? Ich weiß nicht, Wohnmaschine, nur schon dieses Wort. Man könnte auch Batteriehaltung sagen. Die Individualität kommt durch die Bewohner, sagte Sonja, das Haus ist nur ein Gefäß. Meine Kritik schien sie zu ärgern. Ihr Gesicht hatte sich ein wenig gerötet, was ihr gut stand. Fahren wir ans Meer?, fragte ich. Vielleicht später, sagte sie, ich will mir erst ein paar Notizen machen.
    Antje war ausgegangen. Sie werde erst gegen Abend zurück sein, hatte sie beim Frühstück gesagt. Wir aßen eine Kleinigkeit aus dem Kühlschrank, dann verschwand Sonja in Antjes Zimmer, und ich setzte mich ins Wohnzimmer und blätterte in einigen Tierbüchern, die ich auf dem Sofa gefunden hatte. In
Brehms Tierleben
las ich den Artikel über Meerschweinchen. Sie seien genügsam, harmlos und gutmütig und leicht zu halten, schrieb Brehm. Wenn man ihnen etwas zu fressen gebe, seien sie überall zufrieden. Andererseits wären sie nicht wirklich anhänglich, sondern seien zu jedem freundlich, der sie gut behandle.
    Es war heiß in der Wohnung, nur durch die geöffnete Balkontür kam ein leichter Wind und mit ihm die Geräusche der Straße, die erstaunlich nah klangen. Ich streckte mich auf dem Sofa aus und stellte mir vor, wie es wäre, mit Sonja in der Cité Radieuse zu wohnen. Wir hätten zwei Kinder, ein Mädchen und einen Jungen. Wir frühstückten zusammen und brächten die Kinder in die Krippe im Haus und gingen in unser Atelier, wo wir an sozialen Wohnprojekten arbeiteten. Es war ein helles, großzügiges Atelier in der Innenstadt mit großen Tischen, auf denen Pläne lagen und weiße Pappmodelle von Wohnmaschinen herumstanden. Dann waren wir auf einer Baustelle. Sonja sah sehr schön aus in beigen Hosen und einer Leinenbluse und mit einem weißen Plastikhelm. Große rote Kräne standen herum, aber niemand schien zu arbeiten. Der Himmel war blau, und man sah in der Entfernung das Meer und hatte eine Ahnung vom afrikanischen Kontinent jenseits des Wassers. Es war eine Szene wie aus einem französischen Film aus den fünfziger oder sechziger Jahren, unser ganzes Leben war ein Film aus lauter Totalen, weite Räume im Mittagslicht, durch die kleine Menschen sich bewegten, alles sehr ästhetisch, sehr kühl und

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