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Sieben Siegel 02 - Der schwarze Storch

Sieben Siegel 02 - Der schwarze Storch

Titel: Sieben Siegel 02 - Der schwarze Storch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Stoß.
    Der Ballsaal war voller Menschen.
    Frauen und Männer mit Masken.
    Sie trugen altmodische Kleidung. Ballkleider wie aus Schwarzweißfilmen rauschten aufgebläht über das Parkett. Die Männer steckten im Frack oder in fantastischen Uniformen.
    Und alle, bis auf den Letzten, verbargen ihre Gesichter hinter grotesken Maskeraden, bizarrer als alle, die Lisa je gesehen hatte. Sogar Nils’ Monsterköpfe konnten da nicht mithalten.
    Die Schwingtür wollte sich erneut schließen, doch da wurden die Flügel schon von innen festgehalten. Zwei maskierte Butler (Butler? Hier im Hotel?) bedeuteten Lisa mit einer Verbeugung, in den Saal zu treten.
    Wie in Trance folgte sie der Aufforderung. Niemand beachtete sie. Um sie herum drehten sich die Paare in ihren altmodischen Tänzen, und überall standen die Maskierten einzeln oder in Gruppen, nippten an ihren Gläsern und unterhielten sich.
    Und trotzdem herrschte Stille. Kein Laut ertönte, nicht der geringste. Die Musik, zu der die Menschen tanzten, war nicht zu hören – und das, obwohl Lisa am anderen Ende des Saals ein maskiertes Streichquartett erkennen konnte. Auch die Gespräche blieben unhörbar. Gleichfalls die Schritte, das Rascheln der Ballkleider, das Knallen der Champagnerkorken.
    Ich bin taub, dachte Lisa in Panik, und um sich zu vergewissern, sprach sie es laut aus:
    »Ich bin taub!«
    Sie konnte ihre Stimme ganz genau hören.
    Lisa klatschte einmal in die Hände. Auch dieses Geräusch war für sie laut und deutlich zu vernehmen.
    Und das Fest ging weiter. Stumm. Geräuschlos. Ein Geisterball.
    Lisa wich zurück und stieß gegen die Schwingtür. Das kühle Holz vibrierte leicht in ihrem Rücken.
    Zum ersten Mal besah sie sich die Masken genauer. Die meisten schienen Tiere darzustellen, allerdings auf groteske Weise verändert. Wie die traurigen Mutationen, die man manchmal im Fernsehen sieht: Strahlungsopfer, Missgeburten, gefolterte Versuchstiere. Seltsam verschoben, manche zu groß, andere zu klein. Mit Fangzähnen, wo keine hätten sein dürfen, oder gespaltenen Schlangenzungen, die aus den Mäulern von Säugetieren züngelten. Insektenaugen in den Köpfen von Reptilien, Katzenaugen in Vogelgesichtern. Fell und Schuppen auf ein und demselben Schädel. Haarlose Löwen, bärtige Eidechsen.
    Geschöpfe aus einem Albtraum.
    Jetzt sah Lisa, das manche von ihnen sabberten und spuckten. Einige hatten triefende Augen, ein Wolfskopf weinte sogar Tränen aus Blut.
    Lisa war starr vor Grauen. Sie konnte sich nicht bewegen, obwohl sie es wollte. Ihre Muskeln gehorchten ihr nicht mehr.
    Jenseits dieses wogenden Meers aus Schreckensschädeln stand einer, der besonders auffällig war. Er überragte alle anderen um mindestens einen Meter.
    Es war ein Vogel, ein Storch. Sein Gefieder war schwarz wie das eines Raben. Gleich einem Schwert wies sein blutroter Schnabel auf Lisa. Beinahe anklagend.
    Das Ungewöhnlichste aber waren seine Augen. Sie waren weiß und leer, ohne Pupillen.
    Plötzlich teilte sich die Menge und bildete eine Schneise, die von dem schwarzen Storch bis zu Lisa führte. Und Lisa erkannte, dass unter dem Storchenkopf kein Mensch steckte. Er hatte den Körper eines Vogels! Ein Storchenleib mit Storchenbeinen, schwarz gefiedert und auf abstoßende Weise missgebildet. Er war über drei Meter groß, und seine Beine waren viel länger als üblich. Wie Spinnenbeine.
    Lisa schrie auf.

Im selben Augenblick lösten sich die Gestalten rund um sie in Luft auf. Die Tänzer verblassten wie Nebelschwaden. Und dann war der Ballsaal wieder menschenleer. Verlassen.
    Bis auf den Storch.
    Das grässliche Tier stand immer noch da und starrte Lisa aus leeren Augen an. Sie hatte noch nie etwas gesehen, das ihr größere Abscheu eingeflößt hätte. Die Angst verwandelte ihren Körper in eine Eissäule.
    Mit einem Mal riss der Riesenstorch seinen Kopf in den Nacken. Sein Schnabel klappte auseinander wie eine Schere aus rotem Horn, und aus seinem Rachen stieg ein Kreischen empor, wie Lisa es noch nie zuvor vernommen hatte. Ein Schrei aus den Schlünden der Hölle.
    Sie ließ sich einfach nach hinten fallen. Stolperte durch die Schwingtür, warf sich herum und rannte.
    Das Kreischen brach ab. Lisa hörte klappernde Geräusche aus dem Inneren des Ballsaals. Schritte, die ihr folgten, ein Schaben und Kratzen, als Vogelkrallen, groß wie Menschenköpfe, das Parkett aufrissen und Furchen in das Holz gruben.
    Der schwarze Storch war dicht hinter ihr her.
    Lisa stürmte durch den

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