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Sieben Siegel 05 - Schattenengel

Sieben Siegel 05 - Schattenengel

Titel: Sieben Siegel 05 - Schattenengel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Lisa ihn erneut.
    »Eines Tages machte das Mädchen einen Spaziergang im Park«, erzählte Nils weiter, nachdem er Lisa einen strafenden Blick zugeworfen hatte.
    Diesmal fiel Chris ihm mit einem Augenzwinkern ins Wort: »Natürlich um Mitternacht, bei Vollmond, und aus dem Gebüsch kam diese riesige Bestie …«
    »Blödsinn«, wies Nils ihn zurecht. »Gar nix dergleichen. Es war ein Sommertag, die Sonne schien, und überall wimmelte es von Picknickern. Alles war ganz normal und ungefährlich. Das Mädchen ging also stolz mit dieser Monsterfrisur spazieren, und dabei musste es sich ständig bücken, weil die Zweige der Bäume so tief hingen. Einmal aber gab es nicht Acht und streifte mit der Spitze seines Haarturms einen Ast – und ein Spinnennetz, das daran hing.«
    Kyra verzog das Gesicht. Nils wusste genau, wie sehr sie Spinnen verabscheute.
    »Das Mädchen ging weiter, ohne etwas zu bemerken«, sagte Nils. »Es spürte nicht, wie die Spinne über seine Frisur kletterte und schließlich einen Einstieg ins Innere des Haarturms fand. Es ahnte auch nichts von dem fetten weißen Kokon, den die Spinne mit sich herumtrug.«
    »Bäähh«, kommentierte Kyra laut. Chris legte ihr eine Hand auf die Schulter und imitierte mit seinen Fingern das Tasten dicker Spinnenbeine. Kyra schubste ihn angewidert von sich. Darüber musste sogar Lisa lächeln.
    »Einige Wochen vergingen«, fuhr Nils fort. »Das Mädchen sprühte die Frisur weiterhin jeden Morgen mit Lack und Haarspray ein. Nachts trug es den Karton überm Kopf und beim Duschen die riesige Plastikhaube.« Er machte eine kurze Pause, um die Spannung auf den Gesichtern der anderen zu genießen.
    »Dann aber, eines Tages – sie saß gerade im Lateinunterricht –, lief plötzlich ein dünner Blutfaden unter ihrem Haar hervor, die Stirn hinunter und über ihren Nasenrücken. Ihr Blick wurde starr, ihre Lippen öffneten sich einen Spaltbreit und wurden steif. Dann fiel sie kopfüber auf ihr Pult und regte sich nicht mehr. Der Lehrer rief einen Krankenwagen, und die Sanitäter brachten das Mädchen in eine Klinik. Als die Ärzte begannen, das Haar des Mädchens zu rasieren, um nach der Ursache der Kopfblutung zu suchen, spürten sie plötzlich, wie etwas über ihre Hände krabbelte, über ihre Arme und Schultern, sogar über ihre Gesichter. Spinnen! Hunderte kleiner schwarzer Spinnen, die gesamte Brut, die aus dem Kokon geschlüpft war! Weil es den Tieren wegen der dicken Haarlackschicht nicht gelungen war, die Frisur zu verlassen, hatten sie im Inneren nach Nahrung gesucht, waren immer tiefer hinuntergeklettert … bis zu den Haarwurzeln. Und dort hatten sie begonnen, ob ihr’s glaubt oder nicht, den Kopf des Mädchens zu fressen!«
    Nach entsetztem Schweigen sagte schließlich Kyra: »Das ist das absolut Ekelhafteste, was ich in meinem ganzen Leben gehört hab.«
    Auch Lisa wuschelte mit beiden Händen in ihrem blonden Haar herum. Es juckte sie am ganzen Körper. »Kyra hat Recht. Das war total widerlich.«
    »Aber die volle Wahrheit«, erklärte Nils mit geschwellter Brust. »Ich schwör’s, beim Leben meines Lieblingshamsters.«
    »Irgendwann wird das Vieh in seinem Käfig explodieren, und du wirst genau wissen, warum«, meinte Chris.
    Lisa untersuchte ihre Unterarme, diesmal nicht nach den Sieben Siegeln, sondern nach kleinen Spinnen mit gefletschten Zähnen. Die winzigen Härchen auf ihrer Haut standen aufrecht wie nach einem elektrischen Schlag. »Eklig«, wiederholte sie leise.
    Nils wollte noch etwas sagen, doch da zeigte Kyra plötzlich mit ausgestrecktem Arm nach vorne.
    »Wir sind da«, sagte sie.
    Tatsächlich hatten sie das Dorf fast erreicht. Der Weg schlängelte sich in Serpentinen um einige Felsbrocken, dann verschwand er im Labyrinth der weiß getünchten Häuser. Der Hang, in den die Gebäude hineingebaut worden waren, erhob sich steil über dem Rand der Klippe. Am Fuß des Dorfes, dort wo es an den Rand der Klippe grenzte, stand eine kleine, weiß verputzte Kirche. Ihre Außenmauer schien geradewegs in die Steilwand der Klippe überzugehen; der Abgrund, der jenseits davon gähnte, war mindestens hundert Meter tief. Weit, weit unten brach sich die Brandung an schroffen Felsnasen.
    Castel hatte eindeutig die Wahrheit gesagt: Das Dorf war verlassen.
    Es gab hier keine Menschen mehr, nicht einmal Ratten oder Mäuse liefen den Freunden über den Weg. Die engen, verschlungenen Gassen verliefen kreuz und quer den Hang hinauf, viele waren als Treppen angelegt.

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