Sieben Siegel 08 - Teuflisches Halloween
sich das Aufbauschen der Stoffe fort, raste genauso schnell davon, wie es herangekommen war.
Toby öffnete die nächste Tür und trat ein. Dahinter befand sich ein ehemaliger Waschraum, viel größer als die modernen Toiletten im Neubau. Die Wände waren mit rissigen, gelbstichigen Kacheln bedeckt. Nur zwei Notleuchten spendeten Licht.
Die Armaturen und Toilettenschüsseln waren abmontiert worden. Stattdessen hatte man in einer Ecke des Raumes die Attrappe einer alten Duschkabine aufgestellt. Der Vorhang war – in Anspielung an den Horrorklassiker Psycho – von innen mit Kunstblut bespritzt. Am Boden lag ein Körper, eine Puppe, die irgendwer als zerstückelte Leiche ausstaffiert hatte. Erst jetzt fiel Toby auf, wie verteufelt echt diese Illusion wirkte.
Auf der anderen Seite des Raumes stand ein alter Schaukelstuhl, die Rückenlehne zur Tür gedreht. Auf seinen glänzenden Eichenkufen wippte er vor und zurück.
Vor und zurück.
In dem Stuhl saß eine Gestalt. Ein Hinterkopf mit dünnem, grauem Haar ragte über der Lehne empor.
Toby atmete auf. Er hatte mindestens zwanzig Besuchergruppen durch diesen Raum geführt. Er wusste, dass im Schaukelstuhl die mumifizierte Leiche von Mrs Bates saß, die Mutter des Psycho -Schlitzers Norman Bates. Im Film näherte sich ihr von hinten eine ahnungslose Schauspielerin, wirbelte den Stuhl herum – und blickte in das eingefallene Leichengesicht einer Toten. Die Schüler hatten dem noch einen aufgesetzt: Unter der Totenkopfmaske steckte ein Mädchen, das sich ruckartig aufrichtete, einen markerschütternden Schrei ausstieß und mit beiden Händen nach den Besuchern tastete.
In den Gruseldekorationen war der Übergang zwischen Puppen und maskierten Schülern fließend, bis schließlich sogar Toby vergessen hatte, welcher Körper echt und welcher nur eine ausstaffierte Schaufensterpuppe war.
Mrs Bates aber, die tote Frau im Schaukelstuhl, war eine Schülerin gewesen, da war sich Toby sicher! Und die hatte um diese Uhrzeit nichts mehr im Inneren des Altbaus zu suchen. Warum auch, schließlich hätte es keiner länger als unbedingt nötig unter der engen Gummimaske ausgehalten.
Doch im selben Moment begriff Toby, dass der Hinterkopf über der Stuhllehne keinem Mädchen gehören konnte. Das Haar war dünner als das der Perücke, strähniger, wie mit Gel oder Pomade nach hinten gekämmt.
Toby taumelte zurück. Er würde nicht den gleichen Fehler begehen wie die Schauspielerin im Film. Ganz sicher würde er den Stuhl nicht umdrehen. Um nichts in der Welt.
Das war auch nicht mehr nötig.
Hinter Toby schlug mit einem ohrenbetäubenden Knall die Tür zu, von unsichtbaren Händen ins Schloss geworfen. Und die Gestalt im Schaukelstuhl erhob sich. Drehte sich um.
Es war ein Mann. Er trug einen bodenlangen schwarzen Kittel, ein altmodisches Gewand, das Toby schon einmal auf vergilbten Schwarzweißbildern an Lehrern oder Professoren gesehen hatte. Auf Fotos, die aus den Anfangszeiten der Fotografie stammten.
Das Gesicht des Mannes war kaum mehr menschlich. Die Züge waren eingefallen, statt einer Nase klaffte eine dreieckige schwarze Öffnung. Gelbe Augäpfel wölbten sich rund und geädert aus tiefen Höhlen. Schmale, dunkle Zähne stachen aus Kiefern, die mit etwas überzogen waren, das aussah wie gekochter Schinken, der zu lange offen auf dem Frühstückstisch gestanden hatte. Als die Gestalt den Mund öffnete, um zu sprechen, konnte Toby mit unwirklicher Klarheit erkennen, dass sie eine merkwürdige, kleine Zunge besaß – sie war verrottet und eingeschrumpft wie eine tote Maus am Wegrand.
Toby schrie.
»Komm näher, Junge«, sagte der Mann. »Komm her zu mir.«
In der rechten Hand hielt die Gestalt eine Reitpeitsche oder einen Rohrstock, die er alle paar Sekunden durch die Luft sausen und in die offene Handfläche seiner Linken klatschen ließ.
Toby stolperte gegen die geschlossene Tür, zerrte an der Klinke. Vergeblich. Er war eingesperrt.
Schon beim ersten Anblick des Mannes hatte er begriffen, dass dies kein Streich war. So echt hatte keine der Monstermasken ausgesehen. Nicht einmal die Mumie in der Grabkammer. Und er hatte sich noch gefragt, wie sich wohl ein echtes Leichengesicht anfühlt!
Vielleicht würde er es bald erfahren. Denn der Mann kam näher.
Er bewegte sich aufrecht, mit gestrafftem Oberkörper, gefangen in einem altertümlichen, beinah militärischen Drill.
»Ich bin dein Direktor«, sagte die Kreatur. Sie zischte mehr, als dass sie sprach.
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