Sieben Siegel 10 - Mondwanderer
schenkte er ihr keine Beachtung.
Im Treppenhaus war es dunkel, und sie wollte keine Zeit damit vertrödeln, nach dem Lichtschalter zu tasten. In alten Häusern wie diesem lagen die Schalter besonders hoch, und sie hätte sich erst halb an der Wand aufrichten müssen, um an ihn heranzukommen.
Langsam schleppte sie sich die schmalen Holzstufen hinunter. Obwohl sie wusste, dass die Kreatur in ihrem Zimmer sie nicht hören konnte, verursachte ihr das verräterische Knirschen der Treppe Übelkeit. Schlimmer noch waren die Schmerzen, die bei jeder einzelnen Stufe durch das Bein fuhren.
Endlich erreichte sie den Treppenabsatz des ersten Stockwerks. Die kleine Kommode mit dem Telefon stand nur noch wenige Meter entfernt, an der Mündung des kurzen Flurs.
Etwas zischte von oben an Kyra vorüber und verfing sich mit elastischen Fangarmen am Treppengeländer. Der Stern baumelte an den Streben wie ein schwarzer Tintenfisch, die Tentakel verheddert, der Körper halb unsichtbar in der Dunkelheit.
Kyra ließ sich nicht beirren. Sie packte den Telefonhörer und wählte Nils’ Nummer. Nach dem sechsten Klingeln nahm er endlich ab. Er klang müde und schlecht gelaunt. Kyra hatte fast vergessen, dass er immer noch krank war.
»Hör zu«, unterbrach sie ihn, als er begann, ihr einen Vortrag über die Uhrzeit, seine Windpocken und den »blöden Nebel da draußen« zu halten. In wenigen Sätzen erklärte sie ihm, was geschehen war, und erstickte seinen Widerspruch im Keim. Er begriff rasch, wie ernst es ihr war. »Falls diese Dinger bei dir auftauchen«, riet ihm Kyra, »sorg dafür, dass nirgends Licht brennt. Nicht das kleinste bisschen Helligkeit, hörst du? Wenn es völlig finster ist, wirfst du keinen Schatten. Dann können sie dich nicht finden.«
Sie hatte den Satz kaum beendet, als Nils ein scharfes Stöhnen ausstieß.
»Was ist?«
Er klang mit einem Mal sehr aufgeregt. »Irgendwas ist gerade gegen mein Fenster geknallt.«
»Lauf raus in den Korridor.« Kyra versuchte verzweifelt, sich an jedes Detail des Hotels zu erinnern. Auf dem Gang vor Nils’ und Lisas Zimmern gab es keine Fenster. Solange alle Türen geschlossen blieben, musste es dort stockfinster sein.
»Sie sind da!«, zischte Nils. »Ich muss Schluss machen.«
Ein Klicken, und er hatte eingehängt.
Kyra legte auf und atmete tief ein und aus. Dabei blickte sie wie gebannt auf das schmierige Knäuel aus Schattenfleisch am Treppengeländer.
Langsam wanderte ihr Blick zur nächstgelegenen Tür. Tante Kassandras Schlafzimmer.
Die Tür stand nur einen Spalt weit offen, zu schmal, um hineinzuschauen. Trotzdem wehte ein eiskalter Luftzug heraus ins Treppenhaus.
Tante Kassandras Fenster waren nachts grundsätzlich geschlossen, sie klagte ständig über kalte Füße. Dennoch ließ der Luftzug keinen Zweifel, dass es heute nicht so war.
Jemand – etwas – hatte das Fenster geöffnet.
Hatte es von außen eingedrückt.
Kyras Blut schien zu gefrieren. Sie gab der Tür einen Stoß, der sie nach innen schwingen ließ.
Im hellen Licht der Leselampe glitzerten die Glasscherben am Boden wie blitzende Münzen aus Kristall.
Das Erste, was Kyra zwischen ihnen auffiel, war ein Schatten.
Und vom Bett ertönten schlabbernde Geräusche.
Nils schleuderte den Hörer auf die Telefongabel und wirbelte herum. Von Schränken und Regalen grinsten die Fratzen seiner Monstermaskensammlung herab.
Die Nachttischlampe warf ihr Licht auf einen pulsierenden Umriss außen am Fenster. Ein gezackter Riss zog sich durch das Glas; durch ihn quoll weiße Flüssigkeit ins Innere.
Mit einem Schlag fegte Nils die Lampe vom Tisch. Der Stecker wurde herausgerissen, das Licht erlosch. Der Nebel vor dem Fenster aber schien beinahe aus sich selbst herauszuleuchten – eine der Laternen, schoss es Nils durch den Kopf, die bei Nacht draußen den Vorplatz erhellten. Ihr Licht reichte aus, um ihn die sternförmige Silhouette erkennen zu lassen.
Und um einen vagen Schatten zu werfen.
Nils zögerte nur eine Sekunde, dann rannte er zur Tür. Hinter ihm zerbarst das Fenster in einer Wolke aus Splittern.
Er stürmte auf den Flur und warf die Tür hinter sich zu. Etwas klatschte von der anderen Seite dagegen, mit dem Geräusch einer platzenden Wasserbombe. In dem langen, holzgetäfelten Korridor flammten die Deckenleuchten auf. Zu beiden Seiten des Gangs führte ein Dutzend hoher Eichentüren in leer stehende Hotelzimmer. Alle waren geschlossen.
Die Bewegungsmelder!, durchfuhr es Nils.
Weitere Kostenlose Bücher