Sieben Siegel 10 - Mondwanderer
die grandiose Weite der Anderswelt und das Panoptikum ihrer Bewohner.
Es war schon schrecklich genug, tatenlos im Bett zu liegen, während ihre Freunde ihr Leben aufs Spiel setzten. Von allem, was sie in letzter Zeit durchgemacht hatte, war das vielleicht das Schlimmste. Sie fühlte sich verantwortlich für Lisa und Chris, auch wenn die beiden das gewiss weit von sich gewiesen hätten.
Ein feuchtes Schmatzen riss Kyra aus ihren Gedanken.
Erstaunt schaute sie auf und ließ ihren Blick durch die Unordnung in ihrem Zimmer geistern. Der Raum lag direkt unter dem Dach des schmalen Fachwerkhauses, das sie mit ihrer Tante Kassandra bewohnte. Über ihrem Bett trafen sich die beiden Dachschrägen. Auf dem Boden lagen zahllose aufgeschlagene Bücher, nicht mehr die bunten Zeitschriften und Comichefte, die früher den Teppich bedeckt hatten. Die meisten stammten aus Tante Kassandras Bibliothek und aus dem Stadtarchiv, Bücher über Geister und Zaubersprüche, über Dämonologie und die Kraft des Geistes, ein paar Werke über die Geschichte Giebelsteins und einige Bände aus der Chronologia Magica, einem vielbändigen Zauberlexikon, das ihrem Vater gehörte.
Das schmatzende Geräusch wiederholte sich.
Kyra richtete sich im Bett auf und schaute zum Dachfenster. Draußen war es stockdunkel, und nur die Leuchtziffern auf ihrem Radiowecker erhellten schwach die Umgebung. Oft fiel um diese Uhrzeit Mondschein durch die Scheibe, doch heute verbarg der Nebel jeden noch so geringen Schimmer. Kyra konnte das Rechteck des Fensters kaum erkennen, und dennoch war sie sicher, dass die Laute von dort gekommen waren. Es klang, als sei etwas Feuchtes von außen gegen das Glas gefallen.
Ein Vogel, dachte sie im ersten Moment. Tauben landeten öfters auf dem Dach, auch auf dem Fenster. Deren Geräusche klangen jedoch anders. Flattriger.
Kyra schwang die Beine über die Bettkante, bis ein beißender Schmerz ihr schlagartig den verstauchten Knöchel in Erinnerung brachte. Mit einem Keuchen sank sie zurück in die Kissen.
Irgendetwas war da draußen.
Ihre Hand suchte den Lichtschalter ihrer Nachttischlampe. Das Plastik fühlte sich kühl unter ihren Fingerspitzen an. Die Lampe flammte auf und übergoss ihr Bett mit gelblichem Schein. Das Fenster lag am Rande des Lichts, und so konnte Kyra erst beim zweiten Hinsehen erkennen, dass etwas von außen das Glas bedeckte.
Es war nicht der Nebel, wie sie im ersten Moment vermutet hatte.
Es war etwas Glänzendes, Fleischiges.
Es sah aus wie die Unterseite eines Seesterns, nur viel größer. Lebendiger. Kyra zählte sechs Spitzen oder Fangarme, die zu den Enden hin schmal ausliefen. Im Zentrum des pulsierenden Körperbalgs öffnete und schloss sich in raschem Rhythmus eine Vertiefung, die aussah wie ein Mund nach einem besonders üblen Faustschlag, aufgequollen und nässend; die zähe Flüssigkeit, die aus den Winkeln troff, glich sauer gewordener Milch und überzog die Scheibe mit einem schmierigen Fettfilm.
Während Kyra noch entgeistert zum Fenster blickte, lichtete sich der Nebel hinter der Kreatur für wenige Sekunden, und sie konnte durch die Zwischenräume der Sternarme eine ganze Armada schwarzer Ballons sehen, die über das Dach hinwegschwebten. Ganz kurz glaubte sie zu erkennen, wie einer von ihnen platzte, ein Ball aus schwarzem Fleisch in die Tiefe stürzte und sich im Flug zu einer Sternkreatur ähnlich der auf ihrem Fenster entfaltete. In Windeseile verschwand er aus Kyras Blickfeld.
Wurde etwa ganz Giebelstein von diesen Wesen heimgesucht? Einen Moment lang bekam sie vor Entsetzen kaum Luft.
Die weiche Öffnung der Kreatur schmatzte sabbernd gegen das Glas. Kyra sah Muskelstränge, die sich unter dem schwarzen Fleisch spannten, hörte plötzlich ein gläsernes Knirschen, dann ein Reißen und – Das Fenster explodierte in einer Kaskade aus Kristallsplittern.
Kyra schrie auf und riss ihre Bettdecke hoch, um den Scherbenregen abzuwehren. Sie hatte Glück, kein Splitter traf sie. Doch als sie die Decke wieder sinken ließ, war die Sternkreatur fort.
Sie musste jetzt irgendwo im Zimmer sein!
Kyra schleuderte die Decke von sich, zum einen wegen der Scherben, die darauf lagen, zum anderen aber, weil sie fürchtete, das grässliche Wesen könnte sich in den Falten verstecken. Auch wenn es dazu eigentlich zu groß war.
Plötzlich hörte sie ein schlabberndes Geräusch, gefolgt von einem trägen Schleifen.
Ganz, ganz langsam beugte sie sich vor und schaute vorsichtig über die
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