Sieben Stunden im April
kenne: Juliane, zwei Kläuse, Robert, Michael, Petra und wie sie alle heißen. Und es war eigentlich immer nett. Und um an dieser Stelle gleich mit dem alten Vorurteil aufzuräumen, Psychiater und Psychologen seien doch alle selber verrückt: Das ist kein Vorurteil. Das stimmt.
Eine ganz andere Sache als ein Plausch unter Kollegen auf dem Sofa ist es aber, bei einem völlig fremden Facharzt für Psychiatrie, Neurologie und Psychotherapie erst im Warte-, dann im Sprechzimmer zu sitzen. Vorab das unvermeidliche Telefonat mit der Arzthelferin. Oder wie heißen die Damen heute? Haben die jetzt auch eine dieser entsetzlichen englischen Berufsbezeichnungen, unter denen sich niemand etwas vorzustellen vermag? Termin. Ja, bitte. Uhrzeit egal. Nein, nicht erst in drei Monaten, wenn möglich. Ja, der Fall ist eilig. Nein, in sechs Wochen ist auch zu spät. Na ja, wie soll ich das erklären? Depressionen vielleicht. Oder Ängste. Verschiedene Ängste. Nein, ich möchte nicht zu einer Vertretung. Ich sagte doch schon: sechs Wochen sind zu lange. Wirklich. Ja, also … Bitte. Hm … Also gut, wenn es anders nicht geht: Ich bin in einem Gefängnis als Geisel genommen und mehrere Stunden vergewaltigt worden und es geht mir richtig, richtig beschissen. Okay?
In drei Tagen. 9.00 Uhr. Danke.
Wartezimmer. Ich bin verrückt. Ich muss verrückt sein. Nur Verrückte gehen zum Psychiater. Stell dich nicht so an – wie oft hast du selber Leute dahin geschickt und Ihnen erklärt, dass psychische Probleme nichts anderes sind als körperliche. Ich habe mich geirrt. Hast du nicht. Du bist krank. Und ein kranker Mensch braucht ärztliche Hilfe. Das muss ich dir doch nun wirklich nicht erklären. Ich bin also nicht verrückt, weil ich hier sitze. Nein. Bist du nicht. Du bist nur krank. Und du wirst wieder gesund. Krank. Ich bin also krank. Krank im Kopf. So muss es wohl sein. Nicht verrückt, nur krank. Und wenn er mich einweist? Das wird er nicht. Und wenn doch. Das wird er nicht. Er wird es aber irgendwann tun müssen, wenn du jetzt fluchtartig die Praxis verlässt. Du kommst ohne ärztliche Hilfe nicht auf Dauer zurecht. Das weißt du. Ja, das weiß ich.
So lernte ich Dr. Lange kennen, Facharzt für Psychiatrie, Neurologie und Psychotherapie.
»Was kann ich für Sie tun?« Die schlichte und routinierte Frage eines jungenhaften Mannes, dem immer der Schalk aus den Augen blitzt. Merkwürdig. Ruhig und geduldig, aber dieses Blitzen in den Augen hört nie auf.
Ich habe ihm meine Geschichte erzählt und er hat mitgeschrieben. Nur Stichworte. Warum eigentlich?
Und dann die Symptome: Traurigkeit, immer wieder diese Traurigkeit, die mich zu schlucken droht, Schlaflosigkeit. Angst und Panik. Unruhe. Watte-Gefühl. Der Verlust von Überblick, der Verlust von Kontrolle. Erinnerungen, die ich nicht haben will. Nicht-Erinnerungen an Dinge, die mir so wichtig sind. Grübeln. Quälerisch und nicht zu stoppen. Gedankenkreise. Ein verlorenes altes Leben. Und keine Träne dafür. Reizbarkeit. Schreckhaftigkeit. Angst vor Menschen und Angst vorm Alleinsein. Albträume.
»Hatten oder haben Sie Selbstmordgedanken?«
Ich lüge und sage Nein und er tut so, als glaube er mir.
»Ich möchte Ihnen etwas verschreiben.«
»Ja. Sagen Sie, werde ich irgendwann wieder gesund, werde ich wieder die Alte sein?«
»Gesund ja, die Alte – nein.«
»Sagen Sie, kann ich es schaffen?«
»Ja.«
Es folgten viele Gespräche mit Dr. Lange und noch mehr Experimente, bis das richtige, das helfende Medikament gefunden war. Dass er mir einmal das richtige in der falschen Konzentration verschrieben, mich fast – fast, sage ich! – vergiftet hat, auch das sei verziehen und ist schon jetzt unter der Rubrik »Meine lustigsten Psychiater-Geschichten« abgespeichert. Für die Enkel oder für gemütliche Kaffeerunden im Kollegenkreis. Falls es die jemals wieder geben sollte.
Seitdem ich Dr. Lange kenne, kann ich wieder besser schlafen. In den ganz schlimmen Momenten, die ich in den ersten Monaten nach dem Verbrechen hatte, in diesen Stunden, in denen ich fürchtete, ein Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik sei unumgänglich, hat mir seine Handynummer geholfen. Ich habe nie angerufen, aber ich wusste, dass ich sie habe und dass ich sie benutzen kann, wenn es nötig ist. Das hat mir gereicht.
Seitdem ich Dr. Lange kenne, sind meine Ängste nicht weg, aber erträglicher. Dr. Lange meint, das läge an den Tropfen. Ich bin mir da nicht so sicher.
Dr. Lange ist ein sehr
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