Siebenschön
auf mich«, sagte er. Dann zog er die Tür hinter sich zu.
Er rechnete fest damit, dass Jan ihm folgen würde. Dass es Debatten gab. Oder neuen Streit. Doch auf den Stufen hinter ihm blieb alles still, während er die vier Treppen ins Erdgeschosshinunterlief. Als er auf die Straße trat, sah er Jans Silhouette hoch über sich.
Sein Schatten verdunkelte das Fenster und selbst noch auf die Entfernung kam Marlon sein Blick so kalt und unverwandt vor, als hätten sie rein gar nichts miteinander zu tun.
15
»Verdammt, Herzchen, auf wen bist du so sauer?«, fragte Kemal, nachdem sie eine halbe Stunde trainiert hatten.
Zhous bandagierte Fäuste hämmerten noch immer mit ungebrochener Entschlossenheit auf seine Deckung ein. »Wie kommst du auf die Idee, dass ich sauer bin?«, keuchte sie.
»Machst du Witze?«
»Idiot!«
Links. Rechts.
»Schon gut, wechseln wir das Thema, bevor du mich umbringst.« Er hob in gespielter Verzweiflung die Deckung ein Stück höher. »Was macht dein Job?«
»Gut«, gab Zhou zurück, ohne ihren Angriff auch nur eine Sekunde lang abzuschwächen.
»Lügnerin!«
Sie vollführte eine ihrer gefürchteten Blitzdrehungen, und die Ferse ihres rechten Beins landete mit einem satten Geräusch in Kemals Handschuh.
»Autsch!«
»Quatschkopf!«
Er lachte laut und dreckig. Zugleich fühlte Zhou auf einmal fremde Aufmerksamkeit auf sich gerichtet.
Da war jemand.
Jemand, der sie ansah …
Obwohl sie sich denken konnte, um wen es sich dabei handelte,konnte sie nicht verhindern, dass ihr Körper darauf reagierte. Die feinen Härchen im Nacken und an den Unterarmen stellten sich auf. Sämtliche Muskeln waren bis zum Zerreißen gespannt. Ihre Bewegungen wurden noch kontrollierter. Wie eine Katze auf dem Sprung.
»Yong laoshi«, sagte sie leise, doch sie war sicher, dass er sie trotzdem hörte.
»Zhou nusheng, welche Ehre.«
Liu Yun Yong war Mitinhaber der Schule und Meister verschiedener Kung-Fu-Stile. Offiziell unterrichtete er nicht selbst, doch wenn ihn jemand interessierte, kam es vor, dass er eine Trainingseinheit anbot. Zhou hatte bereits ein paarmal das Vergnügen gehabt, mit Liu Yun zu arbeiten, und sie konnte mit Fug und Recht behaupten, niemals einen unbequemeren Lehrer gehabt zu haben. Seit Beginn ihrer Ausbildung praktizierte sie Ying Zhao Quan, einen der ältesten und komplexesten Stile des nördlichen Shaolin-Kung-Fu. Dieser sogenannte Adlerklauenstil vereinte wie kaum ein anderer Eleganz mit Effektivität und harmonierte so gesehen perfekt mit Zhous tänzerischer Ausbildung. Außerdem verfügte er über eine ganze Reihe von Techniken, die sich auch Ausbilder bei Militär und Polizei überall auf der Welt zunutze machten.
»Was ist?«, rief Kemal, der spürte, dass sie abgelenkt war. »Gibst du auf?«
Anstelle einer Antwort ließ Zhou ihre Fäuste sprechen. Doch Liu Yuns Anwesenheit hemmte sie mental wie körperlich. Noch immer konnte sie ihn nicht sehen, aber sie war sicher, dass er am oberen Ende jener Stahltreppe stand, die von der hohen Trainingshalle hinauf in den ersten Stock führte. Was genau sich dort oben befand, konnte sie nicht sagen. Doch sie wusste, dass Liu Yun fast immer dort zu finden war. In derselben Sekunde führte ihr Kemals Fuß an ihrer Hüfte anschaulich vor Augen, dass sie unaufmerksam war. Sträflich unaufmerksam … Verdammt!
Kemal ließ den Fuß sinken. »Hey, alles klar?«
»Sicher. Können wir weitermachen?«
Sein Blick wanderte an ihr vorbei, und noch bevor sie sich umdrehte, wusste sie, dass Liu Yun direkt hinter ihr stand. Sie hatte mit ihm gerechnet, und trotzdem hatte sie ihn nicht kommen hören. Liu Yun war ein Mann, der es verstand, seine Präsenz auszuschalten. Als ob er sich unsichtbar machte.
Farnsamen stehen in dem Ruf, ihren Besitzer unsichtbar zu machen, erinnerte sie ein imaginärer Gehling.
Kemal schälte sich aus seinen Handschuhen und zwinkerte ihr zu. Dann ging er einfach davon, ohne zu fragen, ob ihr das abrupte Ende ihrer Trainingseinheit recht war.
»Ich höre, du hast eine neue Arbeit.« Auf den ersten Blick wirkte Liu Yun wie ein Fremdenführer. Doch wer genauer hinsah, bemerkte die katzenhafte Geschmeidigkeit hinter der harmlosen Fassade. Gerüchten zufolge war er eine Zeit lang Ausbilder beim britischen Geheimdienst gewesen. Damals, als Hongkong – zumindest in gewissen Kreisen – noch zur Debatte gestanden hatte. Und angeblich beherrschte Liu Yun ein paar Techniken, die man, wie ein geflügeltes Wort behauptete, nur
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