Siebenschön
nicht. Mit einem Ruck kam die Plane los und gab den Blick frei auf Sarah Jessica Kindles glatt rasierten Schädel.
Elina verstand nichts von solchen Dingen, aber die Wunde an der Schläfe der Frau sah aus, als habe ihr jemand die Waffe direkt an den Kopf gehalten. Sie presste eine Hand vor den Mund, um nicht zu schreien. Der Schrei kam trotzdem. Die erstarrten Augen, von einem Braun, das sie nie wieder vergessen würde, schienen ihr geradewegs in die Seele zu blicken, und sie merkte, wie ihre Knie nachgaben. Instinktiv klammerte sie sich an Marcels Arm fest.
Der hatte bereits sein Smartphone am Ohr.
»Ja, eine Frau«, hörte sie seine Stimme wie aus einer anderen Welt. »Was? … Scheiße, ja. Ich bin sicher, dass sie tot ist.« Er biss sich auf die Lippen. Sie sah die hellen Flecken, die seine Zähne in der rosigen Haut hinterlassen hatten, als er leise hinzufügte: »Ganz sicher.«
2
»Eine Eisbahn! Das ist es, was dieser Stadt zu ihrem Glück noch gefehlt hat«, knurrte Em, als sie am Lucae-Brunnen aus dem Auto stieg. »New York hat eine, also müssen wir auch eine haben. Und sei es bei zehn Grad plus …«
Niemand wagte einen Hinweis darauf, dass die Temperaturenjetzt, um halb fünf in der Frühe, bestenfalls knapp unter dem Gefrierpunkt lagen. Dazu war Capellis Laune ganz offensichtlich zu schlecht.
Die Ungewissheit und eine bange Nervosität hatten sie die halbe Nacht wachgehalten. Und als sie gerade eingeschlafen war, hatte sich auch schon ihr Pieper gemeldet. Eine weibliche Leiche, abgelegt buchstäblich im Herzen der Stadt, unmittelbar vor der Alten Oper. Der nächste Streich eines Killers, dem sie einfach nicht Herr wurden.
Die Innenstadt war trostlos an diesem frühen Morgen. Es hatte geschneit, aber der Schnee war nicht liegen geblieben. Stattdessen kam der Wind jetzt aus Osten und die klamme Luft schmeckte unangenehm nach Rauch und Benzin.
Ems Augen glitten über das milchige Weiß des völlig derangierten Eises, das die Spurentechniker vermutlich noch in zehn Jahren beschäftigen würde. Schon jetzt war eine ganze Armada von ihnen dabei, Fotos zu schießen, Markierungen anzubringen und Proben zu nehmen. Dieser verdammte Fall entwickelt sich einfach viel zu rasant, dachte Em. Nie kamen sie dazu, einen Gedanken zu Ende zu denken. Jedes Mal riss der Faden, bevor eine Idee Gestalt annehmen konnte. Und immer geschah etwas Neues, bevor sie das Alte verstanden hatten. Auch wenn der Täter dieses Mal ihre Erwartungen erfüllt hatte …
Sie trat hinter einem uniformierten Kollegen durch eine Tür in der Bande und blickte sich um. Es war wirklich unglaublich, wie viele Menschen zu dieser frühen Stunde bereits auf den Beinen waren! Eine größere Gruppe von Schaulustigen hatte sich im Eingangsbereich der Oper versammelt. Dort, wo es windstill war. Etwas entfernt standen zwei Männer in orangefarbenen Parkas. Müllabfuhr vielleicht. Oder Stadtreinigung.
»Passen Sie auf, dass Sie nicht ausrutschen!«, warnte der Beamte, der sie führte.
»Das fehlte noch«, murrte Em. Das Funkeln der Lichterketten brannte in ihren Augen, und sie empfand eine geradezu bleierne Müdigkeit im Angesicht der Erkenntnis, dass der worst case , dieschlimmstmögliche Wendung in diesem Fall, tatsächlich eingetreten war. »Kann mir irgendwer sagen, ob sie schon vor Mitternacht hier gelegen hat?«, fragte sie, als sie die Stelle erreichten, an der die Tote lag.
Dr. Bechstein war bereits vor Ort und drehte sich zu ihr um. »Sie meinen, Ihr Täter war vielleicht zu früh dran?«
»Wäre doch theoretisch denkbar, oder? Auch wenn ich nicht dran glaube, akribisch, wie er ist.« Ems Blicke scannten die Umgebung. »Wann schließen diese Buden?«
»In der Woche um zweiundzwanzig Uhr.« Der Atem des jungen Polizisten stand als weiße Wolke in der düsteren Luft. »Die Eisbahn auch.«
»Wer ist dafür zuständig?«
»Sie meinen für die Bahn?«
Em nickte.
»Die Betreiberfirma. Der Mann vom Schlittschuhverleih sagt, dass das Eis immer erst am Morgen wiederaufbereitet wird. Und zwar ungefähr eine Stunde, bevor der Betrieb wieder losgeht.«
»Und wann ist das?«
»Theoretisch um zehn Uhr vormittags, aber da ist natürlich noch nicht viel los.«
»Zumal heut ein ganz normaler Werktag ist«, sagte Zhou.
Em trat einen Schritt näher an die Plane heran, von der die Leiche bedeckt wurde. »Ist es Sarah Kindle?«, fragte sie.
Dr. Bechstein, die an diesem eisigen Morgen eine wollene Baskenmütze über der Kapuze ihres Schutzanzugs trug,
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