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Siebenschön

Siebenschön

Titel: Siebenschön Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Winter
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vor sich selbst.
    Ängstlich war ein Wort, das er mit allen möglichen Leuten in Verbindung brachte. Aber nicht mit seiner Mutter. Im Gegenteil, sie war ihm immer bemerkenswert unängstlich vorgekommen. Aber heute Abend …
    »Du meinst, sie hat sich gefürchtet?« Auch Jan schüttelte ungläubig den Kopf. »Wovor denn?«
    »Ich habe sie gefragt, warum sie so nervös ist, aber sie meinte nur, das bilde ich mir ein.« Marlon zappte sich durch die Programme, doch überall schien nur Schrott zu laufen.
    »Aber du bist nicht dieser Meinung, oder?« Jan hörte auf, ihn zu massieren, und rutschte neben ihn, um ihm in die Augen schauen zu können.
    Sofort fühlte Marlon eine leise Aggression in sich aufsteigen. Er hasste es, wenn Jan ihn so ansah. Als ob er ihn sezieren wollte. Als ob er geradewegs auf den Grund seiner Seele zu blicken versuchte. »Wie auch immer, es geht mich nichts an«, sagte er.
    »Sie ist deine Mutter, Marlon.«
    »Na und? Bin ich deshalb gleich für ihr Leben verantwortlich?«
    »Verantwortlich nicht, aber …«
    »Ich will nicht über meine Mutter reden, okay?«
    Jan wandte den Kopf ab. »Na klar. Was frage ich denn überhaupt?«
    »Bist du sauer?«, fragte Marlon, als er sah, dass sein Freund in seine Schuhe schlüpfte.
    »Sollte ich?«
    Marlon warf die Fernbedienung auf den Tisch und folgte seinem Freund in die Diele. »Was soll das? Warum willst du gehen?«
    »Ich habe noch eine Verabredung, okay?«, antwortete Jan, und es war nicht zu überhören, dass er Marlons Ton imitierte. Seine Stimme troff nur so vor Verachtung.
    »Eine Verabredung?« Marlon kniff die Augen zusammen. »Mit wem?«
    »Geht dich nichts an.«
    Er erwischte seinen Freund am Ärmel. »Hey! Stopp! Was soll die Scheiße? Wo willst du hin?«
    Anstelle einer Antwort nahm Jan ein Kuvert von der Kommode und hielt es ihm unter die Nase.
    Marlon warf einen Blick auf den Absender und stöhnte laut auf. »Sag nur, du hast ihn aufgemacht?«
    Keine Antwort.
    »Das ist meine Wohnung«, schrie Marlon. Und in Gedanken fügte er hinzu: Immerhin war ich derjenige, der sich von einem schwitzenden alten Sack in den Hintern ficken lassen musste, um hier wohnen zu dürfen! »Und das hier«, er riss den Umschlag an sich, »ist meine Post. Daran hast du nichts verloren, kapiert?«
    Jan sah ihn an. Und obwohl Marlon noch immer rasend wütend war, machte er automatisch einen Schritt rückwärts. In seinem Rücken fühlte er die Wand. Doch ihre Kühle war nichts gegen den Blick, mit dem sein Freund ihn bedachte.
    »Du willst nach Australien?«
    Verdammt! »Nein, ich …«
    »Studieren?«
    »Herrgott, das ist doch nur Infomaterial!«, echauffierte sich Marlon. Doch sein Herz schlug bis zum Hals, und erst mit einiger Verzögerung kam er darauf, was ihn derart aus dem Tritt brachte. Es war gar nicht Jans Reaktion. Nicht einmal der Blick.Es war die Tatsache, dass sein Plan aufgeflogen war. Die Aussicht auf einen Ausweg aus einem Dilemma, dessen er sich selbst noch gar nicht restlos bewusst war. Es gab da dieses Gefühl. Wie eine bange Unruhe. Etwas, das sich partout nicht fassen ließ und das ihm dennoch die Luft zum Atmen nahm. Jeden Tag ein bisschen mehr. Wann es begonnen hatte, konnte er nicht sagen. Nur, dass es sich zuspitzte. Als ob es in seinem Umfeld jemanden gäbe, der ihn zusehends in die Enge trieb. Er dachte wieder an seine Mutter und die Bemerkungen, die sie gemacht hatte. Vorhin beim Essen.
    Nervös? Ich? Blödsinn! Es ist nur … Ich denke viel nach, weißt du?
    Seine Finger fassten den Umschlag fester.
    »Das klingt ja schrecklich«, hatte er geantwortet. »Worüber denn?«
    Und sie hatte ihn angesehen und scheinbar völlig zusammenhanglos gesagt: »Über die Art und Weise, wie wir andere Menschen wahrnehmen, zum Beispiel. Und darüber, wie leicht man jemandem Unrecht tut.«
    Er sah wieder Jan an, der noch immer dicht vor ihm stand. Doch er hatte den Kopf abgewandt und blickte zu Boden. Enttäuscht vielleicht. Vielleicht auch wütend.
    Was ich hier abziehe, dachte Marlon mit einem Anflug von Schuldbewusstsein, ist tatsächlich nicht fair. Und doch hatte ihn die Aussicht auf eine unbeschwerte Zeit am anderen Ende der Welt über die vergangenen Wochen gerettet. Fort. Weg. Alles hinter sich lassen. Noch einmal ganz von vorne beginnen. Aber jetzt … Marlon fühlte, wie sich seine Kiefer verkrampften. Jetzt war alles kaputt!
    Er stopfte das Kuvert in die Tasche seiner Jeans und riss seine Jacke vom Garderobenständer neben der Tür. »Warte nicht

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