Siebenschön
Irgendeine Statistik, die er morgen Vormittag dem Vorstand vorlegen soll.«
»Natürlich«, erwiderte Zhou mechanisch. Manche Dinge änderten sich tatsächlich nie …
»Möchtest du vielleicht eine Kleinigkeit essen?«, fragte ihre Mutter. »Wir hatten zum Abend ganz wunderbare …«
»Nein, danke«, fiel ihr Zhou ins Wort. »Ich habe keinen Hunger. Und genau genommen habe ich auch nicht viel Zeit.«
Rebecca Zhous Augen wanderten zu einer zweiflügligen Kassettentür am Ende des Flurs. Dem Arbeitszimmer ihres Mannes. »Du weißt ja, wo du ihn findest«, sagte sie mit einem Unterton, den Zhou nicht deuten konnte. »Sag Bescheid, wenn du gehst.«
Zhou blickte ihr nach, bis sie mit katzenartig eleganten Schritten im Wohnzimmer verschwunden war. »Ich wollte eigentlich mit euch beiden reden«, flüsterte sie, nachdem sich die Tür hinter der filigranen Gestalt ihrer Mutter geschlossen hatte. Aber auf das, was sie wollte, war es aus irgendwelchen Gründen noch nie wirklich angekommen, auch wenn ihre Eltern nach außen hin alles für sie getan hatten.
Aber das, was ich jetzt mache, dachte Zhou entschlossen, dieser Job ist etwas, in das ich mir nicht dreinreden lasse. Er ist meine Entscheidung. Mein Risiko.
Sie straffte die Schultern und machte sich auf den Weg zu ihrem Vater. Die Villa ihrer Eltern war so penibel in Schuss, dass sie sich bei ihren Besuchen dort oft wie in einem Museum vorkam. Die hohen stuckverzierten Decken wurden regelmäßig geweißt, und ihre Mutter achtete seit nunmehr zwanzig Jahren persönlich darauf, dass die wertvollen Tapeten, die den einzelnen Räumen ihre individuelle Note verliehen, keinen einzigen Kratzer abbekamen. Der viel beschworene Respekt vor den Dingen war etwas, das Zhou seit ihrer Kindheit eingeimpft worden war. Das Besteck nicht zerkratzen. Ordnung halten. Wertschätzen, womit man tagtäglich zu tun hatte.
Das Mobiliar bestand zu großen Teilen aus Antiquitäten, die ihre Eltern aus allen Teilen Europas zusammengetragen hatten. Dazu gab es ein paar geschickt platzierte Werke moderner Kunst, unter anderem eine Abmalung von Gerhard Richter aus den Sechzigerjahren, die ihr Vater zum fünfundzwanzigjährigen Dienstjubiläum vom Vorstand seiner Bank geschenkt bekommen hatte. Das Bild hing, geschützt durch eine aufwändige, aber unsichtbare Sicherheitsanlage, neben der Tür zum Arbeitszimmer. Zhous Blick blieb flüchtig an der Signatur hängen. DieVerehrung ihres Vaters für die westeuropäische Kultur sickerte buchstäblich aus jedem Winkel dieses Hauses, trotzdem konnte er ihre Berufswahl einfach nicht akzeptieren. Und das, obwohl Polizeibeamte genauso zur Kultur dieses Landes gehörten wie Goethe oder Beethoven.
Warum, dachte sie, kann er mich, verdammt noch mal, nicht einfach so sein lassen, wie ich bin?
Sie schluckte ihren Ärger herunter und klopfte gegen den Türrahmen. Gleich darauf hörte sie das leise »Komm rein« ihres Vaters.
Als Sohn emigrierter Festlandchinesen hatte Zhou Ya Dao die ersten Jahre seines Lebens in einer der armseligen Holzbaracken von Shek Kip Mei verbracht, bevor die große Feuersbrunst von 1955 die Familie ein weiteres Mal in Not und Obdachlosigkeit stürzte. Diese Jahre der Entbehrung hatten ihm lebenslange Kränklichkeit, aber auch einen eisernen Willen beschert, und trotz seiner beachtlichen Karriere hatte er niemals vergessen, wo er herkam und wie sich Armut anfühlte. Der Geschäftsmann Ya Dao galt als hart, aber fair. Persönlich hielt man ihn gemeinhin für diszipliniert und unnahbar. Eine Einschätzung, die Zhou ohne Weiteres unterschrieben hätte.
»Mai Xiao.« Er schob das Schriftstück, mit dem er sich gerade beschäftigt hatte, von sich und sah sie an.
»Und?«, erkundigte Zhou sich forsch-fröhlich. »Was machen die Finanzen?«
Im Gegensatz zu Europäern, bei denen Fragen wie diese noch immer als unschicklich verpönt waren, sprachen Chinesen viel und gern über Geld. So auch ihr Vater, und das nicht nur von Berufs wegen.
»Wir leben in aufregenden Zeiten«, entgegnete er mit einem hintergründigen Lächeln.
»Bedeutet das, dass ich meine dreieinhalb Wertpapiere am besten so schnell wie möglich verkaufe und in ein Grundstück investiere?«, fragte Zhou halb im Scherz, halb um ihren Vater mit seiner typisch asiatischen Indirektheit aufzuziehen.
»Grundbesitz ist immer eine kluge Entscheidung«, antwortete Ya Dao, dem derlei Wortgefechte seit je Spaß machten. »Alles Übrige ist eine Frage von Instinkt, Entschlossenheit und
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