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Siebenschön

Siebenschön

Titel: Siebenschön Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Winter
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vergewisserte sich, dass ihr Make-up keine Makel aufwies. Dann nahm sie sich einen Kaugummi aus dem Fach neben dem CD-Player und versuchte, sich ganz auf den Geschmack von Minze zu konzentrieren, der die Verspannungen löste und den Kopf freimachte.
    Eigentlich war sie von Haus aus eher temperamentvoll, doch sie hatte früh die Erfahrung gemacht, dass sich Zornesausbrüche in den Augen ihrer deutschen Landsleute offenbar nur schwer mit einem asiatischen Äußeren oder einer entsprechenden Herkunft in Einklang bringen ließen.
    »Das musst du verstehen, Mai«, hatte ihre Grundschullehrerin einmal wie zur Erklärung gesagt, nachdem Zhou auf dem Schulhof vom Vater einer Mitschülerin auf das Übelste beschimpft worden war – einzig und allein dafür, dass sie seiner tyrannischen, beständig um sich schlagenden Tochter eine Ohrfeige verpasst hatte. »Von einem Mädchen wie dir erwartet man so etwas einfach nicht …«
    In den Jahren danach hatte Zhou viele Stunden damit verbracht,herauszufinden, was man stattdessen von ihr erwartete. Ihre Eltern zum Beispiel. Oder ihr sogenanntes schulisches Umfeld. Doch sie war zu keinem befriedigenden Ergebnis gekommen. Wurde sie deutlich, bezeichnete man ihr Verhalten als »unpassend« oder gar »unmöglich«, hielt sie sich zurück, belegte man sie binnen kürzester Zeit mit Attributen wie »arrogant«, »gefühllos« oder »langweilig«. Sie sah in den Spiegel und streckte sich selbst kurz die Zunge heraus, bevor sie die Sichtblende wieder hochklappte und den ersten Gang einlegte. Irgendwann war sie so verunsichert gewesen, dass sie beschlossen hatte, ihre Gedanken und Gefühle, insbesondere die negativen, konsequent für sich zu behalten. Ironischerweise hatte ausgerechnet diese emotionale Totalverweigerung zur Folge, dass sie das Klischee – und damit offenbar auch die Erwartungen ihrer Mitmenschen – voll und ganz erfüllte. Dass die Dinge leichter wurden. Dass man sie lobte. Mit ihr zufrieden war. Dass sie gefiel . Sie verzog angewidert das Gesicht. Denn obwohl sie seither nur noch selten aneckte, hatte sie tief in ihrem Inneren das Gefühl, einen Verrat zu begehen. Einen Verrat an sich selbst.
    Sie fuhr erschrocken zusammen, als ihr bewusst wurde, dass die Ampel längst wieder auf Grün stand. Doch zum Glück war hinter ihr niemand, der sich über ihre Träumerei hätte ärgern können. Sie gab Gas und bog an der nächsten Kreuzung links ab.
    Trotz des wenig erfreulichen Auftakts im Präsidium hatte sie beschlossen, auf dem Heimweg noch kurz bei ihren Eltern vorbeizufahren. Beide wussten bislang nichts von ihrem neuen Job, doch irgendwann, das wusste Zhou, würde sie Farbe bekennen müssen. Warum also diesen rundum schrecklichen Tag nicht noch mit einem weiteren Fiasko krönen?
    Sie schnalzte verächtlich mit der Zunge und trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch.
    Die Jugendstilvilla, in der sie den Großteil ihrer Kindheit verbracht hatte, lag im vornehmen Westend, ganz in der Nähe des Botanischen Gartens. Sie fand einen Parkplatz direkt vor demHaus und warf einen Blick auf die Uhr. Kurz nach halb zehn. Das bedeutete, dass sie zumindest eine kleine Chance hatte, ihren Vater zu Hause anzutreffen.
    Nachdem sie – wie immer – zweimal kurz hintereinander auf die Klingel gedrückt hatte, postierte sie sich direkt vor der Überwachungskamera. Als sie ein leises Knacken in der Gegensprechanlage hörte, hob sie die Hand und begann zu winken.
    Keine zehn Sekunden später wurde die Tür geöffnet.
    Trotz der späten Stunde trug ihre Mutter ein exzellent geschnittenes Businesskostüm und halbhohe Pumps. Ihr zeitloses Gesicht, das zumindest auf den ersten Blick keiner bestimmten Nationalität zuzuordnen war, wirkte edel und blass. Die Haut war makellos gepudert, Augen und Lippen sorgfältig betont.
    »Mai, Schatz, wie schön, dich zu sehen!« Rebecca Zhou machte einen Schritt rückwärts, um ihre Tochter eintreten zu lassen.
    Erst in der opulenten Eingangshalle umarmten sie einander.
    »Wie geht es dir, mein Kind?«
    »Gut, danke.«
    Die Augen ihrer Mutter verweilten kurz auf ihrem Gesicht, dann wandte sich Rebecca Zhou entschlossen, fast abrupt von ihrer Tochter ab. »Und die Arbeit?«, fragte sie, indem sie Zhou bedeutete, ihr ins Wohnzimmer zu folgen.
    »Auch gut. Allerdings gibt es ein paar interessante Neuigkeiten, von denen ich euch berichten wollte.«
    Ihre Mutter hielt inne. »So?«
    Zhou nickte. »Ist Papa da?«
    »Ja, seit einer halben Stunde. Aber er arbeitet noch.

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