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Siebenschön

Siebenschön

Titel: Siebenschön Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Winter
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vornahm. Weil ich so berechenbar bin? Falls ja, habe ich ihm ja wohl einen Strich durch die Rechnung gemacht, haha!
    Er nahm sich eine Pinzette, die er in einem alten Schraubglas aufbewahrte. Seltsamerweise kam ihm ausgerechnet jetzt ein Roman von Friedrich Dürrenmatt in den Sinn, den er ganz besonders mochte: ›Das Versprechen‹. Darin wartet ein Kommissar vergeblich auf einen Kindermörder, um ihn auf frischer Tat zu überführen. Der Polizist organisiert sogar ein kleines Mädchen als Lockvogel, doch der Mann, hinter dem er her ist, verunglückt auf dem Weg zu seinem Opfer mit dem Auto und kommt nie an. Und irgendwann beginnt der kluge Kommissar, an seinem Verstand zu zweifeln …
    Jetzt hör endlich auf, dich verrückt zu machen, rief er sich selbst zur Ordnung. Es ist vorbei. Du siehst doch selbst, dass er aufgegeben hat!
    Irgendwann verlieren sie die Lust, hatte seine Mutter ihm eingebläut, wenn er in der Schule wieder einmal gehänselt worden war, kurz nach dem Krieg. Damals, zu einer Zeit, da die Leute noch viel weniger als heute gewusst hatten, wie sie mit Menschen jüdischer Abstammung umgehen sollten.
    Irgendwann verlieren sie die Lust …
    Als das Glöckchen über der Eingangstür bimmelte, fuhr er erschreckt zusammen. Und gleich noch einmal: ein dezenter Dreiklang, der ankündigte, dass jemand hereingekommen war und anschließend die Tür wieder hinter sich geschlossen hatte.
    Aber hatte er denn nicht hinter Doris abgeschlossen, vorhin? Verwirrt legte er seine Pinzette zur Seite.
    Normalerweise tat er das automatisch, wenn er abends länger blieb. Schon um sicherzugehen, dass kein Betrunkener hereinkam. Oder irgendein Junkie, der sich ein paar Euro für den nächsten Schuss erhoffte. Die Gegend gehörte zu den besseren in Frankfurt und galt als weitgehend sicher, aber in einer Stadt wie dieser musste man leider immer und überall damit rechnen, dass etwas geschah, was man nicht auf der Rechnung hatte.
    Er stand auf und ging in den Verkaufsraum hinüber, dochauf den ersten Blick konnte er nichts Verdächtiges entdecken. Bis auf das Licht in den Außenvitrinen hatte er bereits vor Stunden alle Lampen gelöscht. Eine alte Sparsamkeit, die er – genau wie den Laden – von seinem Vater geerbt hatte. Was im schummrigen Halbdunkel zu erkennen war, wirkte so harmlos wie immer. Doch an einem Tag wie diesem beschloss er, lieber auf Nummer sicher zu gehen.
    Als Erstes überprüfte er die Eingangstür, und tatsächlich: Sie war unverschlossen.
    »Seltsam«, murmelte er und drehte den Schlüssel zweimal herum. Anschließend drückte er zur Sicherheit noch einmal auf die Klinke.
    Dann schaltete er die Deckenbeleuchtung ein. Die Energiesparbirnen brauchten einige Sekunden, um zu ihrer vollen Leistung zu gelangen. Und selbst dann war das Ergebnis im Vergleich zu den guten alten Glühlampen noch immer ausgesprochen unerfreulich.
    In dem kleinen Verkaufsraum schien so weit alles in Ordnung zu sein. Dorn sah hinter die Verkaufstheke und in den Abstellraum neben der Toilette. Er überprüfte die Kellertür, den alten Garderobenschrank, in den Doris und er die Mäntel hängten, und auch die kleine Teeküche, deren Rückwand an sein Büro grenzte. Doch er konnte keine Auffälligkeiten feststellen.
    Gottlob!
    Beruhigt kehrte er in sein Büro zurück.
    Der Schuss traf ihn völlig unvorbereitet. Dorn taumelte rückwärts, und das Letzte, was sein sterbendes Gehirn registrierte, war die Schreibtischkante in seinem Rücken. Das leise Klirren der Zahnrädchen, als sein Kopf auf der Tischplatte aufschlug, bekam er dagegen schon nicht mehr mit. Ebenso wenig wie den Schatten des Mannes, der auf ihn fiel, während sich eine schnell wachsende Blutlache über die jahrhundertealten Teile breitete.
    Der Mann blieb noch eine Weile neben der Leiche stehen und sah zu, wie Theo Dorns Blut kurz vor dem entkernten Uhrengehäuselangsam ins Stocken geriet. Die Figuren auf dem Uhrenkasten zeigten die Geburt des Amor.
    Kurz darauf erklang der Dreiklang über der Tür ein weiteres Mal, und der Fremde verschwand in der Dunkelheit, ohne dass irgendwer auch nur die geringste Notiz von ihm genommen hatte.
12
    Zhou starrte die rote Ampel an und versuchte verzweifelt, ihr aufgewühltes Inneres wieder unter Kontrolle zu bringen. Die Fassade wiederherzustellen, die ihren Ärger verbarg. Und die Enttäuschung über diesen völlig misslungenen Start in das neue Leben, auf das sie sich so sehr gefreut hatte.
    Sie klappte die Sichtblende herunter und

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