Siebenschön
er gemeinsam verbracht hatten. Westen blickte auf die gedrucktenZeilen hinunter, bis die Druckerschwärze unter seinen Augen verschwamm. Es war schon spät gewesen, damals, und Dana und er hatten zu Bett gehen wollen. Der Bezug war gelb gewesen, daran erinnerte er sich, hellgelb und quietschsauber. Und für den Bruchteil einer Sekunde hatte er tatsächlich geglaubt, er sei wieder da.
Eine meiner ersten Aufgaben ist es, Milan zu beobachten. Ich sitze auf einem nackten Holzstuhl in der Ecke des Zimmers und sehe ihm zu. Es gibt keine Vorgaben. Milan darf tun, was er will. Doch zunächst tut er gar nichts. Er sitzt einfach da. Auf dem Teppich, mitten im Raum. Er sieht mich nicht an, aber trotzdem habe ich nicht den Eindruck, dass er meinem Blick bewusst ausweicht. Im Gegenteil. Ich habe das Gefühl, dass er mich genauso sorgfältig studiert wie ich ihn. Er geht dabei nur anders zu Werke. Unauffälliger. Effektiver.
Westen ließ das Buch sinken und überlegte, was der Junge, dem er den Namen Milan gegeben hatte, wohl heute machte. Dabei musste er an seine Exfrau denken. Denn Dana hatte ihm oft solche Fragen gestellt: Was macht XY heute? Denkst du, dass der und der noch immer auf kleine Kinder steht? Und er hatte all diese Fragen fast immer mit »Ich weiß es nicht« beantwortet.
»Das ist doch wohl nicht dein Ernst«, hatte sie sich daraufhin entrüstet, zumindest noch zu Beginn ihrer Ehe.
»Doch«, hatte er erwidert. »Das ist mein Ernst …«
»Aber du hast doch gesagt, der Junge sei gefährlich.«
»Oh ja, das ist er.«
»Na also!« Ein triumphierender Blick. »Dann musst du dich doch auch dafür interessieren, was er macht, oder nicht?«
»Nein.«
»Wieso nicht?«
Das ist in der Tat eine berechtigte Frage, dachte Westen. Eine Frage, der er – nebenbei bemerkt – immer ausgewichen war. Aber was hätte er denn auch sagen sollen? Dass er sich nicht für das weitere Leben seiner Patienten interessierte, weil er ohnehin nichts ändern konnte? Weil die Gerichte allzu oft verhinderten, dass es überhaupt eine Handhabe gab?
Der Junge, den wir zum Schutz seiner Persönlichkeitsrechte im Folgenden Milan nennen wollen …
»Von wollen kann keine Rede sein«, murmelte Westen bitter und klappte entschlossen das Buch zu.
»Aber es muss einen doch total frustrieren, wenn man eine Gefahr kommen sieht und nichts dagegen tun kann«, hatte Bernd, sein bester Freund, einmal zu ihm gesagt. »Mich frustriert es ja schon, wenn ich nur davon höre …«
»Ich bin nicht auf der Suche nach einem Heilmittel«, hatte Westen ihm entgegengehalten. »Ich betreibe Grundlagenforschung.«
»Aber Grundlagenforschung hat doch den Zweck, die Basis für ein Heilmittel zu schaffen. Welchen Sinn sollte sie sonst haben?«
Westen nickte leise vor sich hin. Da war er zum ersten Mal hellhörig geworden. Und doch hatte es noch eine quälend lange Zeit gedauert, bis er die Konsequenzen gezogen hatte.
Manche Dinge brauchen leider einfach etwas länger.
Er stellte das Buch ins Regal zurück. Dann holte er seinen Mantel aus dem Schrank neben der Tür und löschte das Licht.
Im selben Moment, in dem er aus dem Haus trat, begann es zu regnen.
11
Als Em am Merianplatz aus der U-Bahn stieg, hatte sie sich immerhin so weit beruhigt, dass sie wieder klar denken konnte. Inzwischen war es fast halb elf, doch in Trudis Laden brannte noch immer Licht. Trudis Wohnung lag ganz in der Nähe, doch Em hatte den unbestimmten Eindruck, dass ihre Nachbarin sich am wohlsten fühlte, wenn sie in ihrem Geschäft sein konnte. Vielleicht, weil sie dort ihrer Einsamkeit entkam.
Em entschied sich zu klopfen, und gleich darauf hörte sie auch schon die vertrauten Schritte auf der anderen Seite der Tür.
»Wer stört?« Sie konnte das Lächeln in Trudis Stimme hören.
»Na, wer wohl?«
Anstelle einer Antwort hörte Em, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte.
»Ich wollte mich für die Trüffel bedanken …«
»Komm rein.«
Es war verrückt, aber diese himmelblauen Augen hatten eine unheimlich beruhigende Wirkung auf sie. Em streckte Arme und Schultern, und zum ersten Mal seit Beginn dieses Falls fühlte sie sich wirklich erschöpft.
»Du siehst aus, als ob du ’n schweren Tag hattest.«
»Ist nicht dein Ernst«, entgegnete Em, wohl wissend, dass sie der klugen Trudi ohnehin nichts vormachen konnte.
»Kaffee?«
»Aber immer doch.« Sie folgte ihrer Nachbarin ins Hinterzimmer und ließ sich auf ihren Stammplatz, einen alten chintzbezogenen Sessel, fallen.
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