Siebenschön
brachte. »Herr von Treskow wollte gerade gehen.«
Sie bedachte ihren Ex mit einem letzten, wie sie hoffte unmissverständlichen Blick. Dann ließ sie beide einfach stehen, holte ihre Handtasche aus dem Büro und verließ das Präsidium.
10
Sander Westen starrte die Tür seines Büros an. Wie lange er schon so dasaß, konnte er nicht sagen. Minuten vielleicht. Vielleicht auch Stunden. Trotzdem verspürte er weder Hunger noch Durst. Nicht einmal Müdigkeit. Nur eine tiefe, allumfassende Leere.
Der letzte Patient war lange fort.
Astrid ebenfalls.
Und doch brachte er es einfach nicht über sich, die Praxis zu verlassen und nach Hause zu gehen. Die beiden Kriminalbeamtinnen hatten ihn nach Lina Wöllner gefragt. Doch er dachte immerfort an jemand anderen. Hatte das etwas zu bedeuten? Oder war es nur ein dummer Streich, den ihm seine Phantasie spielte? Eine unbewusste Reaktion auf die beunruhigenden Neuigkeiten, mit denen ihn die beiden Ermittlerinnen konfrontiert hatten?
Drei der Opfer waren mit Ihnen bekannt …
Westen stand auf und trat an das Regal neben der Tür. Mitsicherem Griff zog er ein Buch heraus und schlug es auf. Er brauchte nicht lange, um die Stelle zu finden. Immerhin hatte er selbst geschrieben, was dort stand:
Der Junge, den wir zum Schutz seiner Persönlichkeitsrechte im Folgenden Milan nennen wollen, ist dunkelblond und alles in allem eher schmächtig.
Milan! Westen schüttelte den Kopf. Wie war er eigentlich auf diesen Namen gekommen? Er hatte niemals jemanden gekannt, der Milan hieß. Und eigentlich verband er auch nichts Bestimmtes mit dem Namen.
Nichts, was wir tun oder sagen, ist vollkommen willkürlich, meldete sich Gregor Feinstein zu Wort, einer seiner alten Professoren.
Also Milan …
Westen horchte in sich hinein, gespannt, welche Assoziationen der Name in ihm wachrief. Doch das Bild, das seine Erinnerung ihm anbot, war ganz und gar nicht das eines schmächtigen blonden Jungen auf dem Teppich in seinem Arbeitszimmer, sondern – viel konkreter – die Vorstellung eines ruhig dahingleitenden Greifvogels über einem Feld. Westen war in der Eifel aufgewachsen, wo das Land weit und flächig war und wo man sich an manchen Stellen fast wie auf hoher See fühlte, umgeben von wogenden Wellenbergen in Hellgrün und leuchtendem Gelb. Freier Blick bis zum Horizont inklusive. Und hoch über all dem schwebte Milan, der Raubvogel, kaum mehr als ein Schatten, der jederzeit vom Himmel stürzen konnte, um Beute zu machen.
Nichts, was wir tun oder sagen, ist vollkommen willkürlich …
Ein Junge mit Augen aus Stahl. Der Blick dennoch wach und aufmerksam. Ein Junge, der Abstand hält. Von seinen Mitpatienten. Von seiner Mutter. Von seinen Therapeuten. Nicht, dass er jemals eine Hand abgeschüttelt hätte, die sich ihm aufdie Schulter gelegt hatte. So weit war er nie gegangen. Trotzdem hatte jeder, der ihm nahe gekommen war, das Gefühl gehabt, Stein zu berühren.
Oder stimmte das gar nicht? Westen stutzte. War das nur seine eigene, ganz persönliche Empfindung gewesen?
Er schloss die Augen und sah den Garten vor sich, in den er von seinem Arbeitszimmer in Haina geblickt hatte. Seltsam, dachte er, welche Bilder das Gedächtnis ausgräbt, einzig und allein, um einer unbequemen Wahrheit zu entgehen. Friedliche Bilder von Sommersonne und Blumen, deren Blütenköpfe ein lauer Westwind sanft über die niedrige Fensterbank beugt, direkt in sein Arbeitszimmer. Kein anderer Raum, der ihm je so vertraut gewesen wäre. Und doch war es zugleich der Ort gewesen, an dem er die Monster studiert hatte. Ausgerechnet!
So also sehen Sie Ihre Patienten? , stichelte die brünette Kommissarin hinter seiner Stirn.
Westens Augen klebten noch immer an der ersten Zeile. Dem Beginn des Kapitels, das er mit »HINTER DEM SPIEGEL« überschrieben hatte:
Der Junge, den wir zum Schutz seiner Persönlichkeitsrechte im Folgenden Milan nennen wollen, ist dunkelblond und alles in allem eher schmächtig.
Seltsamerweise war das Erste, was er von ihm wahrgenommen hatte, ein Geruch gewesen. Kein typischer Jungengeruch, sondern das Aroma eines ganz bestimmten Waschmittels. Westens Finger schlossen sich fester um den Einband des Buches. Ja, dachte er, der Junge auf dem grünen Teppich hat sauber gerochen. Befremdlich sauber sogar, wenn man bedachte, was er nur wenige Stunden zuvor getan hatte. Und einmal, Jahre danach, war Westen der Geruch sogar noch einmal wiederbegegnet. Auf Sardinien, in einem der letzten Urlaube, die Dana und
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