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Siebenschön

Siebenschön

Titel: Siebenschön Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Winter
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Es war ein eingespieltes Ritual, das keiner großen Worte bedurfte.
    Früher sind die Leute zur Beichte gegangen, dachte Em. Und in Zeiten wie diesen besucht man eine Trudi. Falls man eine hat …
    »Kannst du mir eine Frage beantworten?«
    Trudi lächelte. »Klar, was willst du wissen?«
    »Woran liegt es, dass in schwierigen Phasen grundsätzlich alles zusammenkommt?«
    »Das?« Ihr Lächeln vertiefte sich. »Ach, das ist so was wie ’n Naturgesetz, glaub ich. Vermutlich damit es uns nicht langweilig wird, hier unten.«
    »Und welches Arschloch entscheidet, was langweilig ist?«
    Anstelle einer Antwort brach Trudi in prustendes Gelächter aus. Sie erinnerte Em immer ein wenig an eine Figur aus einem Märchen. Eine weise alte Fee mit gütigen Augen und weit mehr Verstand, als einem lieb sein konnte.
    »Aber mal ehrlich«, stöhnte sie, »da hast du wochen- und monatelang Ruhe, und von jetzt auf gleich verschwört sich die ganze Welt gegen dich, und alle fallen sie gleichzeitig über dich her.«
    »Schließt dieses alle auch deine neue Partnerin ein?«
    Sie überlegte. »Nein, eigentlich nicht.«
    »Hm.«
    »Was hm?«
    »Irgendwie klingt das, als ob du ihr selbst das noch übel nimmst.«
    Em blickte ertappt zu Boden, während nebenan im Verkaufsraum das Telefon zu läuten begann. »Geh ruhig ran«, sagte sie, während ihre Nachbarin wie selbstverständlich zwei prächtige Sammeltassen und einen Teller Gebäck vor sie hinstellte. Als hätte sie ihr Leben lang nichts anderes getan.
    »Nicht nötig. Ist nicht wichtig.«
    »Woher willst du das wissen?«, fragte Em, der die ständige Erreichbarkeit im Job mittlerweile in Fleisch und Blut übergegangen war.
    »Das ist nur meine Nichte«, antwortete Trudi in aller Seelenruhe.
    »Die mit dem chinesischen Kind?«
    »Genau. Sie ruft mich jeden Samstagabend an, damit es nicht so aussieht, als ob sie einzig und allein auf mein Geld aus ist. Was natürlich nicht der Wahrheit entspricht.« Trudi schütteltevergnügt den Kopf. »Trotzdem meldet sie sich jeden Samstag um Punkt halb elf. Dann sind die Kinder im Bett, und sie kommt vom Zumba. Aber, weiß Gott, ich kann dir nicht sagen, für wen von uns beiden das die größere Strafe ist.«
    »Geh trotzdem ran«, lachte Em. »Sonst denkt sie, es ist was nicht in Ordnung.«
    Trudi warf ihr einen prüfenden Blick zu, als überlege sie ernsthaft, ob sie es sich leisten könne, sie in diesem Zustand allein zu lassen.
    »Geh!«, drängte Em.
    »Na schön«, sagte Trudi und verschwand im Nebenraum. »Es dauert nicht lange.«
    Gleich darauf hörte Em sie am Telefon lachen.
    Sie kuschelte sich in ihren Sessel und betrachtete eine Blechdose mit Lebkuchen auf dem Sideboard, auf deren Vorderseite nostalgische Impressionen von Schlittschuh laufenden Kindern zu sehen waren. Eine harmlose kleine Szenerie, die eine fast unwirkliche Idylle ausstrahlte. Irgendwo in einem anderen Teil des Ladens schlug eine Uhr.
    Sie ruft mich jeden Samstagabend an … Immer um Punkt halb elf …
    Verdammt! Em richtete sich so heftig auf, dass sie beinahe ihre Tasse umgestoßen hätte. Das zarte Porzellan klirrte, und im gleichen Augenblick tauchte Trudis Gesicht im Türrahmen auf. Sie hatte das Telefon am Ohr und warf Em einen fragenden Blick zu.
    Em bedeutete ihr, dass nichts geschehen sei und dass sie dringend etwas zum Schreiben benötige.
    Trudi verstand und wies auf einen prall gefüllten Stifteköcher in Ems Rücken.
    »Danke«, flüsterte Em und zerrte ihr iPhone aus der Tasche.
    MENÜ . KALENDERFUNKTION. MONAT OKTOBER.
    Okay, mal sehen …
    Jonas Tidorf war aller Wahrscheinlichkeit nach am sechzehnten gestorben, einem Dienstag.
    Alois Berneck am siebenundzwanzigsten, das war ein Samstag. Em notierte Namen und Daten auf der Rückseite eines Prospekts für Räucherkerzen, den sie im Mülleimer neben ihrem Sessel gefunden hatte.
    Gut. Weiter.
    Lina Wöllner war am sechsten November gestorben und Jenny Dickinson am fünfzehnten. Ein Dienstag und ein Donnerstag. Em hielt kopfschüttelnd inne. Dienstag, Samstag, dann wieder ein Dienstag und zuletzt ein Donnerstag … Und doch hatte Theo Dorn an diesem besagten letzten Donnerstag mit Post von dem geheimnisvollen Unbekannten gerechnet. Was das betraf, war sich seine Angestellte ganz sicher gewesen.
    »Was war mit den Tagen davor?«, hatte Em nachgehakt.
    Doch Doris Senn hatte nachdrücklich den Kopf geschüttelt. »Nein, da ist mir nichts dergleichen aufgefallen.«
    »Keine übertriebene

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