Siebzehn Silben Ewigkeit - Roman
ihm je danach zumute sei, ein Zeichen zu geben. Er versprach es ihr. Er solle es aber auch wirklich tun, setzte sie mit gezwungenem Lächeln hinzu. Ein betretenes Schweigen folgte. Sie standen etwa zehn nicht enden wollende Sekunden lang wortlos auf dem Balkon und wagten nicht, einander anzusehen. Um diesem Stillstand ein Ende zu machen, sagte Tania schließlich, sie müsse gehen. Sie verabschiedete sich und ging steif die Stufen hinunter. Auf dem Bürgersteig wandte sie sich nach ihm um, beschleunigte dann ihren Schritt und eilte davon. Bilodo glaubte etwas auf ihrer Wange schimmern zu sehen. Eine Träne? Während er sie fortgehen sah, überkam ihn plötzlich ein intensives Gefühl. Es war wie eine quälende Leere, wie ein schöner Gedanke, der in dem Augenblick, da er sich in die Lüfte schwingen will, fehlschlägt, verkümmert, noch bevor er Gestalt annehmen kann. In Bilodos Kehle steckte eine glühende Kugel, und er merkte, dass Tränen seinen Blick trübten. Er war plötzlich versucht, Tania hinterherzurufen, sie aufzuhalten, solange sie noch in Hörweite war, und seine Hand hob sich, streckte sich nach ihr aus, er wollte rufen, doch über seine Lippen drang kein einzigerLaut. An der Straßenecke wandte Tania sich nach rechts und verschwand aus seinem Blickfeld. Bilodos Hand sank herab. Auf der Straße biss sich der Wind in den Schwanz und wirbelte Zeitungsfetzen auf. Als Bilodo aufblickte, sah er, dass der Himmel ganz verhangen und grau, von schweren Wolken bedeckt war. Ein Himmel, der nach einem Unwetter aussah. Erschauernd trat er in die Wohnung.
Bilodo schloss geistesabwesend die Tür und betrachtete den Zettel mit Tanias neuer Adresse, wobei ihn nicht nur die schön geschriebenen Buchstaben in ihren Bann zogen, sondern auch die neuen Möglichkeiten, die sie verhießen. Die Buchstaben und Ziffern schienen auf dem Papier zu schweben, im Zwielicht zu leuchten. Der Wandel, den der unerwartete Besuch in ihm bewirkt hatte, verstörte Bilodo: all die Gefühle, die die Träne der jungen Frau ausgelöst hatte, und die unsinnige Hoffnung, die plötzlich aus dem von ihr zurückgelassenen Stück Papier aufkeimte. Hatte er vielleicht etwas ungeheuer Wichtiges übersehen? Gab es möglicherweise noch einen anderen Ausweg, eine bessere Art und Weise, aus der Sackgasse zu gelangen? Gab es tatsächlich ein Leben nach dem Tod oder, besser noch: davor?
Als er das Wohnzimmer betrat, blieb er wie angewurzelt vor der von der Decke herabhängenden Schlinge stehen. Bilodo spürte, wie ihm schlecht wurde. Die Aussichtzu sterben, die er soeben noch als wohltuend empfunden hatte, erfüllte ihn plötzlich mit Schrecken, und beim Gedanken an das, was er sich um ein Haar angetan hätte, drehte sich ihm der Magen um. Von heftiger Übelkeit befallen, rannte er ins Bad und übergab sich. Als er sich schließlich wieder aufrichtete, fühlte er sich im wahrsten Sinne des Wortes restlos ausgepumpt und musste sich, um nicht zusammenzubrechen, am Waschbecken festhalten. Er brauchte eine Erfrischung. Er öffnete den Kaltwasserhahn und bespritzte sein Gesicht ausgiebig mit Wasser. Das kühle Nass tat ihm gut. Er schüttelte sich und warf einen pessimistischen Blick in den Spiegel, um zu prüfen, welche zombieähnliche Visage ihm wohl daraus entgegenblicken würde.
Was er sah, ließ ihn zusammenfahren. Der Spiegel rahmte den zerzausten, bärtigen Kopf von Gaston Grandpré ein.
22
Bilodo musterte ungläubig jenes Gesicht, das doch eigentlich nicht dort sein konnte, nicht anstelle seines eigenen im Spiegel sein durfte, da es einem Toten gehörte. Um es zu vertreiben, blinzelte er nachdrücklich mit den Augen und erteilte sich eine gehörige Ohrfeige, doch Grandpré blieb hartnäckig im Spiegel und imitierte jede seiner Bewegungen, wobei er ihn nicht minder erstaunt betrachtete. Bilodo kam zu dem eindeutigen Schluss, dass er verrückt geworden war. Dann zogen gewisse Details in der Physiognomie des Mannes im Spiegel seine Aufmerksamkeit auf sich, woraufhin er sein möglicherweise voreiliges Urteil noch einmal überdachte. Das war nicht wirklich Grandpré. Diese grünen Augen gehörten Bilodo und waren nicht die blauen des Verstorbenen, und auch die Augenbrauen – feiner, weniger buschig als die Grandprés – und die etwas stumpfe Nase und die deutlich weniger fleischige Unterlippe … Während er sich nach undnach im Gesicht des anderen wiedererkannte, musste Bilodo zugeben, dass er weder träumte noch einer Psychose verfallen war,
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