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Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Titel: Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viola Di Grado
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schwarz verschmiert war. Er zog den Kopf weg und sagte: »Es ist besser, wenn wir Freunde bleiben.«
    »Und ich Idiotin dachte, ich bedeute dir was.«
    »Natürlich bedeutest du mir was.«
    »Und was?«
    »Wie, was?«
    »Was bedeute ich?«
    Direkt vor mir, die ich nach Luft rang, rieb er sich mit dem Taschentuch über den Bauch. Er meuchelte die Schriftzeichen, die ich gemalt hatte. Die Zeichen, die bedeuteten, dass ich nichts bedeutete, die aber Bedeutungseinheiten waren, wie sagt man, morphosyllabisch. Ich packte Wen an den Schultern. Ich rieb fest mit allen Fingern, auf und ab, während er sagte: »Bitte, lass mich.«
    Ein morphosyllabisches Gemetzel. Das sorgfältig Gezeichnete wurde zu obszönen Flecken. »Glücklich« sah auf einmal aus wie ein gestiefelter Kater, »Heiterkeit« wie eine Taube mit ausgebreiteten Schwingen, »Freude« auch, und aus dem eingeschlagenen Kopf sickerte noch immer Tinte, aber da hatte ich, verdammt noch mal, keinen Funken Mitleid.
    Und ich stand in Flammen, zitterte wie verrückt. »Du Blödmann, jetzt legst du endlich mal dieses Scheißtaschentuch weg.«
    »Okay, ich lege es weg, aber sei doch nicht so böse, du gefällst mir, aber …«
    »Jetzt sagst du mir endlich, warum, verflucht noch mal!«
    Er befreite sich aus meinem Griff und begann sich für immer das Hemd zuzuknöpfen. Einen Knopf nach dem anderen schloss er, alle zwei Sekunden einen. Ganz langsame, aber nervöse Bewegungen. Und dann kam wieder das Gedudel von seinem Handy. Wen ging dran und fing an, auf Chinesisch hineinzusprechen. Ich verstand keinen Ton. Ich schwitzte. Ich schielte zu dem Himmel hinaus, der für mich hinter dem verlogenen Schaufenster wie eine aufgeblasene blaue Luftmatratze aussah.
    Das Telefonat ging weiter. Das Bullauge auf keinen Fall gewaltsam öffnen. Bring es stattdessen um, erwürge es mit einem Schal aus Nylon, bis es nicht mehr um Vergebung flehen kann.
    Wen beendete das Gespräch. Ich schämte mich in Grund und Boden. Ich schämte mich für alles. Für alles, das ich in meinem Leben gemacht hatte, für alle Worte, die ich gesagt hatte, und tatsächlich tauchte da plötzlich das Gesicht meiner Mutter unter den Jeansröcken auf, die rechts neben der Kasse hingen, dort, wo Wen auch die leichten, cremefarbenen Hemden untergebracht hatte. Die Augen aus Plastik, mit denen man diese Hemden zuknöpfte, waren die Augen meiner Mutter, und sie sagten wieder und wieder: »Ich hab dich gewarnt.«
    Es waren ihre unsichtbaren Arme in den Ärmeln, ihr Hals, der die Nylonschals aufblähte, die neben dem Fenster hingen, aber es war nicht der Wind, es war sie selbst. Sie war alles bis auf mein Spiegelbild im Schaufenster, mein Spiegelbild-pechschwarze-Haare-großer-Zinken, während Wen die Schlüssel mit dem schmutzigen Bugs-Bunny-Anhänger aus der Kasse holte, in seine Tasche steckte und sagte: »Entschuldige, ich muss jetzt gehen.« Mein Spiegelbild war wie ein Etikett, das nicht mehr richtig klebte, an der Fensterscheibe, an der Mauer auf der anderen Straßenseite, auf den Dächern der wunderschönen Häuser, die dahinter standen. Und an dem knallblauen Himmel, der sich darüber ausbreitete. Mein Spiegelbild, auf die Schönheit der Welt ausgespuckt.
    Er steckte das Handy in die Tasche. »Ich muss jetzt das Geschäft abschließen.«
    Wie schade, dass ich meiner Mutter doch nicht so ganz treu geblieben war. Dass ich unser Schweigen verraten hatte, dass ich mich vor der Welt bloßgestellt hatte, die uns doch gar nicht mehr angehörte.
    Ich griff nach meinem schleimgrünen Rucksack mit den schlammbraunen und ketchuproten Streifen und dem Schlüsselanhänger, von dem nur ein Eisenring übrig war.
    »Du bist ein Arschloch, Wen, und ich komme nie wieder zu dir ins Geschäft.«
    Er hob die Augen, und erst jetzt bemerkte ich den Jungen, der aus dem Kabuff aufgetaucht war und ganz reglos dastand.
    »Und wer zum Teufel bist du?«
    Wen drehte sich überrascht zu ihm um. Der Junge gab keine Antwort. Er hatte große, erstaunte Augen, und seine Mundwinkel zeigten nach unten. Er trug ein gelbes Sweatshirt mit der Aufschrift: »Juicy fun in the sun.«
    »Geh wieder rein, Jimmy.«
    Der Junge blieb noch zwei Sekunden stehen und zog sich dann wieder hinter die rote Tür zurück.
    »Aber wer war das denn?«
    »Mein Bruder.«
    »Wie lange steht der schon da?«
    »Ich weiß nicht.«
    Und er ging.

,,Es war saukalt und kackdunkel. Nur die Neonlichter leuchteten jeden Winkel der Headingley Lane aus und zeigten in allen Einzelheiten

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