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Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Titel: Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viola Di Grado
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man die ganze Nacht verkleidet auf Kneipentour, bis man entweder Erleuchtung erlangt oder den Menschen ins Bett gekriegt hat, auf den man steht. Das Spiel nennt sich Leben, und alle spielen es, außer mir. Man nennt sie Häuser, die Gebäude auf der Woodhouse Street voller zufriedener Pärchen, die Nüsse und Käsekuchen naschen und zu lachen anfangen, wenn sie mich durchs Fenster sehen. Man nennt ihn Kerzenlicht, den grellen Neonschein von Nino’s Pizza und Tom’s Fish & Chips, nur drei Pfund die Portion, der bei Tage die Fenster dieser Häuser beleuchtet, denn heute Nacht feiern die Liebenden bis zum Umfallen, nur um sich von mir anschauen zu lassen und zu lachen, nur um mir das Herz in Stücke zu reißen und die Fetzen an ihre alten Klamotten zu heften, diejenigen, die sie zuerst ihrer Putzfrau geben und die die Putze dann in den Müll schmeißt. Man nennt es Feste und Lachen und weiße Nächte. Man nennt es Hochzeiten. Kinder. Enkelkinder. Erinnerungsfotos und Reiseandenken. Liebesgeflüster, mit einem Magneten an die Kühlschranktür gehängt. Liebevolle Nachrufe.
    Ich bin fast in der Christopher Road, doch es ist mir egal. Zwei Frauen küssen sich genüsslich neben dem chinesischen Restaurant, die Rothaarige rezitiert ein Gedicht auf Bulgarisch oder Russisch, die andere antwortet in einem Englisch, das voller U’s ist, damit ich nichts verstehe. Ein junges Mädchen streichelt der Brünetten im Fish & Chips übers Haar. Ich mit meinen ausgelatschten Adidas-Turnschuhen und der Tüte auf dem Kleid, in die Wasser hineingelaufen ist, beiße mir auf die Zunge, bis heißes Blut fließt. Im Autobus Nummer 96, der langsam vorbeifährt, auf dem gelben Fahrrad, das abbiegt und mich um Haaresbreite verfehlt, in dem vollbesetzten Taxi, das mich bis zu den Knien mit Matsch vollspritzt – überall Menschen, die sich im Arm halten und über mich lachen.
    Und auf der Straße, mitten im Regen, Menschen, die eng umschlungen gehen und Kleider tragen, die sie von anderen geschenkt bekommen haben, in Seidenpapier gewickelt, Körper, die sich an anderen Körpern gewärmt haben.
    All das, all dieses ganze Liebesgetue – könnten sie mir doch nur einen von diesen Mönchen von früher vorbeischicken, die an deine Tür klopfen und sagen: »Denk daran, dass du sterben musst.«
    Als ich tropfnass und mit Matsch vollgespritzt zu Hause ankam, räumte ich meinen Schrank aus und breitete all meine Klamotten auf dem Tisch aus, die aus dem Müllcontainer und die gebrauchten, die ich im Geschäft gekauft hatte. Ich nahm eine Schere. Und zerschnitt alles. Ich schnitt alles auseinander, bis jedes Kleidungsstück nur noch aus Fetzen bestand.
    Meine Mutter tauchte in der Tür auf. Sie trank Milch aus dem Karton, hatte die Polaroid um den Hals. Ihre Fingernägel waren schmutzig, grünliche Schlafpopel hingen in ihren Augenwinkeln. Der Milchkarton machte ein saugendes Geräusch, als er leer war. Sie warf ihn auf den Boden. Leckte sich die Lippen.
    »Mama, verdammt noch mal, geh in dein Zimmer zurück.«
    Nicht weinen, Camelia.
    »Ich weine nicht. Ich weine nicht. Ich hab dir gesagt, du sollst abhauen.«
    Stattdessen hob sie die schwere Polaroid-Kamera über ihren Kopf und nahm das Loch in der Decke ins Visier.
    Aber … Wann hatte sich das denn gebildet?
    Es war apfelgroß, und man sah die Decke des Zimmers über mir. Das heißt, des Zimmers meiner Mutter.
    Man sah bis zu dem großen feuchten Fleck, der sich an ihrer Decke ausbreitete.
    Sie kniff ein Auge zu und schaute durch den Sucher der Kamera.
    Und wenn du bis drei zählst, mein Schatz …
    Aber ich weiß schon, was dann passiert.
    Eins.
    Stefano Mega, der es im Chrysler mit Liz Turpey treibt.
    Zwei.
    Wen, der es mit mir nicht treiben will.
    Drei.
    Ich, die ich langsam in dem Loch krepiere, in dem mein Vater gestorben ist.
    Klick.
    Das Foto schob sich aus der Kamera. Ich nahm es. Aus dem Loch in meiner Decke, die ich nicht in Brand gesetzt hatte, war deutlich der ferne Fleck an der Decke darüber zu erkennen. Von allen Löchern, die sie fotografiert hatte, tat dieses am meisten weh.
    In diesem Moment gab es einen Donnerschlag. Dabei hatte ich gerade begonnen, an die Lügengeschichten der Jahreszeiten zu glauben. Dann ein zweites Donnern und ein blendender Blitz. Einen Moment lang kam sie näher und reckte die Arme in die Luft wie ein Schiffbrüchiger, der versucht, sich bemerkbar zu machen, wenn ein Flugzeug über ihn hinwegfliegt. Ja, Mama, erwürg mich nur, verdammt, ich wusste, dass du es

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