Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)
Kalligraphie.«
»Und was zum Teufel soll das heißen?«
»Das erklär ich dir besser am Dienstag, jetzt ist es schon sieben.«
Er stand auf. Ich erhob mich ebenfalls und riss dabei ein Hemd vom Bügel.
Er ging darauf zu und bückte sich, um es aufzuheben. Die rote Katze klimperte zwei Mal.
Ich griff nach seinem Handgelenk.
»Was ist denn, Camelia? Entschuldige, wenn ich ungehalten war.«
Ich schrieb ihm dieses »begehren« auf die Handfläche. Es heißt xi. Sieben Striche, oben ein Kreuz, wie ein Verbotszeichen. Der Radikal dazu heißt »Tuch«.
Ohne mich anzuschauen, sagte Wen: »Ja, das stimmt, das schreibt man so.«
Ich schlüpfte in den anderen Ärmel. »Setz dich einen Moment, Wen.« Er nahm wieder hinter der Kasse Platz und warf mir einen seltsamen Blick zu. Er trug ein gelb kariertes Hemd und ausgebeulte Jeans.
Ich setzte mich vor ihn, griff wieder nach seinem Arm und streckte ihn auf einem kleinen Stapel Quittungen auf dem Tisch aus.
Ich schrieb noch einmal »begehren« auf sein Handgelenk, und dann noch einmal, ein Stück weiter unten, und so weiter, ganz wild war dieses Begehren auf seinem Arm.
Ich begehrte und begehrte: höher und höher, auf den Venen und in der Armbeuge, auf dieser verrückt weißen Haut, so wächsern wie die geschminkten Gesichter der Peking-Oper.
Ich hielt mit dem Pinselstrich dort an, wo er sich verbreitern musste, und hob ihn rechtzeitig, wenn er schmal werden sollte. Jetzt quäkte Wens Handy, ein chinesischer Popsong war der Klingelton.
»Nicht drangehen, warte, hör mal zu. Wenn der Strich, der nach unten führt, aussehen soll wie ein menschlicher Arm, was bedeutet dann der kleine Strich auf dem linken Zeichen von ›glücklich‹?«
»Äh … ein Auge.«
Ich trat hinter die Kasse, neben ihn, so nahe, dass ich seinen Atem einatmen konnte. Das Handy hörte auf zu klingeln, und Wen begann heftiger zu atmen.
»Mach einen Moment mal die Augen zu, Wen.«
»Wie bitte? Warum denn, entschuldige …«
»Jetzt sei doch nicht so verkrampft, ich will doch bloß üben. Mach die Augen zu!«
Er tat, wie ihm geheißen. Ich beschrieb ihm die Augenlider mit »glücklich«, das man gaoxing schreibt. Erster Ton plus vierter Ton. Sechzehn Striche insgesamt.
»Entschuldige, Camelia, aber …«
»Was denn? Du bist ganz rot geworden, wieso denn?«
»Nicht dass ich … Camelia … entschuldige, aber ich muss …«
»Entspann dich.«
Ich schrieb ihm »glücklich« auf die runden Wangen und entlang der Nase. Dabei fiel ihm ein Tropfen Tusche auf das Hemd. Ich zog es ihm aus, damit es nicht noch schmutziger wurde.
Er wurde knallrot und schaute mich an. »Entschuldige, aber jetzt reicht’s, okay?«
Der Schweiß verwischte eines der beiden Glückszeichen auf seiner Schläfe. Da schrieb ich ihm ein größeres auf eine Schulter, und dann auch auf die andere, und rundum deklinierte ich es mit dem Zeichen für »Freude« und dem Zeichen für »ruhig, still«, das sich links aus dem Radikal für »grün« und rechts aus dem Radikal für »Krieg« zusammensetzt. Das machte ich solange, bis Wens ganze Schulterpartie voll war.
Dann »Leben« auf seine glänzende und unbehaarte Brust. Vierzehn Striche, das erste Zeichen ist das von »geboren werden«, das zweite ist das, das zu »Ausgang« wird, wenn man »geboren werden« hinzufügt. Dann »Stadt« und »Mensch«, und dann erneut »Leben«, weil man davon nie genug hat. Wen saß stocksteif da, und seine Fäuste waren geballt. »Ich muss jetzt einkaufen gehen, Camelia.«
»Warte doch einen Augenblick. Nicht aufstehen.«
Ich schrieb ihm »Befriedigung« rund um den Nabel, dann, ein wenig darüber, »Spaß«, und dann rundherum alle anderen Schriftzeichen, die ich kannte. »Katze« und »Löwe«, »Tränen« und »Berg«, »Bosheit« und »nasale Stimme«, »Nebel« und »Grimassen«, immer weiter hinab, bis meine Finger bei seinem Hosenknopf angelangt waren.
»Nein, jetzt reicht’s, Camelia, ich muss gehen, es ist spät, entschuldige mich.« Er schob den Stuhl mit großem Rumpeln zur Seite. Mir fiel der Pinsel auf den Boden.
»Aber was … willst du mich abservieren?«
Jetzt stand er und wischte sich das Gesicht mit einem Taschentuch ab.
»Entschuldige.«
»Was soll das heißen, entschuldige? Mensch, Wen, ich dachte, du … Ich dachte, wir …«
»Nein, nein, du hast recht, ich steh total auf dich, Camelia … wirklich.«
»Na also … warum …«
Ich stand auf, trat auf ihn zu und näherte meine Lippen seiner Wange, die ganz
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