Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)
zu setzen – »Schau doch mal, was für ein Sonnenuntergang« –, aber sie warf mir nur einen vorwurfsvollen Blick zu, der bedeuten sollte: Die Sonne interessiert mich nicht, und ging wieder.
Am Freitag, dem achten Februar, um vierzehn Uhr zweiundzwanzig und zwei Sekunden wurde im Wetterbericht ein großer Sturm angesagt, und tatsächlich begann an diesem Nachmittag eine wilde Flucht der Objekte.
Das Erste, was sich bewegte, war der Notenständer meiner Mutter, den ein heftiger Windstoß die Treppe hinunter beförderte. Er war vollkommen verbogen, das viereckige Oberteil so weit über dem Ständer abgeknickt, dass es klang, als würde er weinen, doch das war nur das Lied, das der Wind sang.
Und das war nur der Anfang. Zwei ganze Tage lang rutschten meine Schulhefte von den Regalen, Kleider fielen vom Stuhl, ganz zu schweigen vom wilden Flug der Schriftzeichen, die der Wind von der Wand fegte und an alle möglichen geheimnisvollen Plätze im Haus trug. In der Ritze zwischen dem Sofa und seiner Lehne bildete sich eine Präposition des Zustandes, ein »Schicken« lauerte im Briefkasten, und dann nutzte ein Vogel aus zwölf Strichen die Gunst der Stunde und flog aus dem offenen Fenster in die Freiheit.
Ich sagte: »Mama, warum hast du denn das Fenster aufgemacht? Mach es wieder zu«, aber sie schaute mich nur ganz langsam an, weil sie das einzige Ding im ganzen Haus war, das sich nicht bewegen wollte. Da machte ich es zu, doch der Wind drückte dagegen, riss es erneut auf, die Scheibe bebte und klirrte, so sehr, dass ich Lust bekam, mich auch in Bewegung zu versetzen, rasch die Aerobic-Stunde auf Channel 4 einschaltete und zu Liedern von Sängern, die ich sonst ganz grässlich fand, herumhopste.
Doch irgendwann blieb ich immer bei einem Film hängen und notierte mir Radikale auf die Hand. Alles, was ich so sah: den buschigen Schwanz des Hundes, das Eis für die Kälte, den Baum für das Bett, die Seide für das Rot ihres Mantels, den Mund für die Frage, die sie ihm stellt, die drei Münder für ihn, der ihr mit einer Beleidigung antwortet, und ehe ich mich’s versah, waren es vielleicht sechs Münder geworden, weil man damit nie aufhört.
Mit diesem Spiel konnte ich mir die ganze Nacht die Zeit vertreiben, indem ich den Dingen eine eindeutige Logik verpasste, denn so konnte ich dem Schlaf ein Schnippchen schlagen.
»Mama, warum hast du noch nichts an? Ich hab dir doch den Schlafanzug aufs Bett gelegt.«
Es war Abend, es war Samstag, der sechzehnte Februar um einundzwanzig Uhr, und es war unser Backsteinhaus inmitten von anderen Backsteinhäusern. Von der Straße hörte man die Stimmen von Menschen, die unterwegs waren, um sich zu amüsieren, alte Mütterchen auszurauben oder beides zusammen. Meine Mutter saß auf der gewürfelten Decke, den Rücken leicht gekrümmt, die Haut des Bauches entspannt. Ihre Lider waren geschwollen. Aus dem Wohnzimmer kam eine weitere Erkennungsmelodie einer Fernsehserie. Sie griff unbeholfen nach ihrem Baumwolloberteil mit den Libellen und zeigte auf die Lampe, um mir zu sagen, ich solle sie ausmachen. Ich jedoch schrieb ihr mit dem roten Filzstift, den ich immer noch in der Hand hatte, das Zeichen für »Feuer« auf den Rücken.
Es sind nur vier schiefe Striche, die aussehen wie Fragmente eines Meteoriten, in genau dem glorreichen Moment, in dem er auf der Erde aufschlägt.
Livia saß da und schlief bereits, nur einen Arm im Ärmel, den anderen nicht. Ich ging hinunter, um mir den isländischen Film anzuschauen.
Der Wind hatte ihn unters Sofa gepustet, weshalb ich eine halbe Stunde brauchte, um ihn zu finden. In der Hülle steckte ein Film, in dem es um vier Jungs ging, die sich in einem Bunker im Wald verstecken, um nicht an einem Ausflug teilnehmen zu müssen. Den Schlüssel behält ein anderer Junge, der draußen bleibt, aber dann kommt er nicht mehr wieder, und sie sterben alle bis auf die Hauptfigur. Ich war schon vor dem Ende des Filmes eingeschlafen und träumte etwas, das kein Albtraum war.
Um elf nach zehn wachte ich wieder auf. Die Sonne ergoss sich über das ganze Wohnzimmer, auch über das Sofa, das Fahrrad, die Treppe und die Zimmerdecke. Von draußen kamen Geräusche von Dingen und Personen, die am Leben waren, von Menschen und Autos, von Hunden. Es fiel ein leichter Regen. An meinen Händen leuchtete immer noch das knallige Rot des Filzstifts.
Plötzlich wurde es Frühling in Wens Laden. Das heißt, es trafen Frühlingsklamotten ein. Ein Farbrausch in Gelb und
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