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Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Titel: Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viola Di Grado
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Blau und Weiß, dazu Blassrosa und verwegenes Rot. Baumwollröcke, Staubmäntel mit Gürtel, Caprihosen, T-Shirts mit Dreiviertelarm, geblümte Blusen. Strass, glänzende Plastikknöpfe, Gaze, durchbrochene oder durchsichtige Baumwolle, witzige Stickereien, Puffärmel oder Ärmel im Hobbit-Stil. Und dann kam einige Tage später tatsächlich der Frühling, er lag in der Luft und nicht nur in den Kleidern. Und er kam auch etwas zu früh, denn wir hatten erst den einundzwanzigsten Februar.
    Offenbar ist auch der Frühling in Leeds, wie der Winter, schrecklich eingebildet. Er glaubt, er könne alle Knospen der Welt zum Erblühen bringen, auch diejenigen, die längst verwelkt sind. Er bestreicht die trockenen Blütenblätter mit Sonne, er sagt »Steh auf und geh« in der Sprache der Vögel, er zwitschert und leuchtet, bis auch das letzte Blütenblatt, die letzte Blütenkrone, die Überreste einer Gerbera auferstanden sind, und bringt auch die kleinste Knospe zum Erblühen. Die Woodhouse Street füllte sich mit Lazarussen der Botanik.
    Uralte Lilien, vollschlanke Rosen, Nelken mit überirdischen Blütenblättern, die bis zum Boden reichten. Reihe um Reihe Chlorophyll-Wunder, Wirbelstürme aus Pollen, und wenn die Bienen diesen üppig gedeckten Tisch sahen, flippten sie vollkommen aus und fuhren selbstmörderisch die Stacheln aus wie Samurai.
    Und damit war er noch lange nicht zufrieden, der Frühling in Leeds. Er wollte in die Geschichte eingehen. Er wollte, dass mit ihm eine neue Zeitrechnung begann. Er wollte selbst die unbelebten Dinge zum Erblühen bringen, auch Kleider und Autos.
    Das Schaufenster von Wens Geschäft war ein Fest aus schillerndem, gelbem Licht, Ströme aus Pailletten ergossen sich über ein Kleid, das zu allem anderen ausersehen schien als dazu, verstümmelt zu werden.
    Ein Kleid, das ich immer lieben werde, wenn er es mir mit seinen kleinen, weißen Fingern anzieht.
    »Hörst du mir zu, Camelia? Woran denkst du? Du musst das Handgelenk stillhalten, nur der Arm bewegt sich.«
    »Ja, aber so nervt es mich.«
    »Nur am Anfang. Entschuldige, aber du selber willst doch mit dem Pinsel schreiben, obwohl wir im Alltag eigentlich nur Kugelschreiber benutzen.«
    Ich bewegte den Arm, der eingemummt in die schwere Wolle des hochgeschlossenen Kleides war, dem mit der eingenähten Plastikeinkaufstüte auf dem Bauch. Ich weiß schon, das habe ich nie erwähnt, aber was wollt ihr eigentlich, soll ich euch einen Katalog nach Hause schicken?
    Wen korrigierte mich unablässig, er nahm mir den Pinsel aus der Hand, indem er ihn wie ein empfindliches Insekt zwischen Daumen und Zeigefinger hielt. All das tat er mit Gesten, die winzig und voller Sorgfalt waren.
    »Schau mal, so schreibt man, Camelia.«
    »So habe ich es doch gemacht.«
    »Nein. Das Schriftzeichen sollte sich immer in einem gedachten Rahmen befinden.«
    »Was für ein Rahmen denn?«
    »Ein idealer Rahmen. Gedacht, verstehst du?«
    »Aha.«
    Die Chinesen nehmen ihre Schriftzeichen sehr ernst, und in der Tat hatte mir Wen gesagt, dass sich die Kalligraphen früher mitsamt ihren Pinseln und Tintenfässern begraben ließen.
    Der Griff meines Pinsels war aus einem besonderen Holz geschnitzt. Es stammte von einem Baum, den es nur in China gibt, der nach Tee duftet und aus dem auch die buddhistischen Gebetsschnüre hergestellt werden. Eigentlich gehörte er Wen, genauer gesagt seinem geschiedenen Vater, der in Knaresborough wohnt. Dieses erstaunliche Schreibwerkzeug stammte direkt vom Markt von Liulichang, in Peking, wo sie ganz in der Nähe gewohnt hatten. Offenbar gab es dort alle möglichen Formen von Pinseln, welche aus weißem Porzellan mit einem gemalten blauen Drachen drauf, oder aus geschnitztem Holz, oder aus Jade. Ganze Straßen, gesäumt von Pinseln in allen Größen und Formen.
    »Du hast es schon wieder falsch geschrieben.«
    »Wie bitte?«
    »Hier. Das Zeichen für Kraft. Schau mal, der erste Strich muss nach innen gehen. So.«
    Er hielt das Blatt mit den Fingern fest und verlängerte den rechten Strich des »Kraft«-Zeichens, das ich geschrieben hatte, um einen Millimeter. Ich griff zum Pinsel und schrieb es ab. Dann machte ich mit dem Zeichen für »begehren« weiter, doch er hielt meine Hand fest. »Nein, schau mal, das stimmt wieder nicht.«
    »Wieso?«
    »Weil dieser Strich hier, der nach unten führt, wie ein menschlicher Arm aussehen muss.«
    »Aber was redest du da, Wen?«
    »Schau mich nicht so an, so steht es in einem bedeutenden Handbuch der

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